Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, 21.09.2011

Der Junge mit der Kamera

Der 91-jährige Bernwardt Thorsch besucht nach 72 Jahren die Produktionsstätte der legendären Guthe & Thorsch Kameras in der Bärensteiner Straße 30 in seiner Vaterstadt Dresden, aus der er 1938 mit Vater und Schwester in die USA fliehen mußte.
 
Viele Erinnerungen sind mit der Zeit verlorengegangen. Aber dieses Bild ist Bernward Thorsch auch so viele Jahre später im Kopf geblieben. „Da war ein großer elektrischer Motor, der über einen Lederriemen andere Maschinen in der Werkstätte antrieb.“ Das Geräusch hat der 91-Jährige noch im Ohr. Das gleichmäßige Rattern. „Und ich erinnere mich an die jungen Frauen in der Firma, denen ich als Kind die Bleistifte anspitzen durfte“, schmunzelt Bernward Thorsch. „So viele Stifte.“

Hin und wieder blitzt der Schalk aus den alten, matt-blauen Augen hervor. „Ich bin ein bisschen lange weg gewesen“, entschuldigt sich Bernward Thorsch lächelnd für sein Deutsch. In fehlerfreiem Deutsch. 72 Jahre hat er gewartet, bis der Wahl-Amerikaner im vergangenen Jahr erstmals wieder in seine Geburtsstadt Dresden zurückkehrte. In dieser Woche ist er wieder hier, um erneut auf Spurensuche zu gehen. Und um heute Abend eine Ausstellung in den Technischen Sammlungen mit zu eröffnen, die erstmals mit vielen Familiendokumenten an das legendäre Kamera-Unternehmen der Familie Thorsch in Dresden erinnern soll.

Es war der Wunsch zu seinem 90. Geburtstag, wieder einmal nach Dresden zu kommen. „Ich bin in Dresden geboren“, sagt Bernward Thorsch mit Nachdruck. „Das alles ist sehr emotional für mich“, fügt der Mann im Rollstuhl leise hinzu. Fast, als wolle er sich entschuldigen. Dafür, dass sich seine Augen immer wieder mit Tränen füllen. Die rechte Hand beginnt leicht zu zittern. Tochter Jennifer, die ihren Vater in dieser Woche auf der Reise in seine Dresdner Kindheit begleitet, streichelt ihm immer wieder liebevoll über den Arm.

Flucht aus Dresden

Der Name Thorsch, das ist ein Stück Kamera-Geschichte. Aber auch das Leben einer Unternehmerfamilie mit jüdischen Wurzeln, die Dresden, die Nazi-Deutschland 1938 verließ, bevor es wie für Millionen andere zu spät war.

Bernwards Vater Benno B. Thorsch schrieb in den 20-er und 30-er Jahren in Dresden Kamera-Geschichte. Gemeinsam mit dem Dresdner Unternehmer Paul Guthe gründete er 1919 die „Kamera-Werkstätten Guthe & Thorsch“. Es entwickelte sich zu einem der innovativsten Kamera-Produzenten dieser Zeit.
 
Die legendäre, super-flache „Patent-Etui-Kamera“ und die „Pilot 6“ wurden in der Werkstätte in der Bärensteiner Straße 30 gefertigt; in der zweiten Etage der heutigen Druckerei des Landtagsabgeordneten Karl Nolle.

Es waren die vielen kleinen innovativen Kamera-Betriebe wie Guthe & Thorsch, die Dresden Anfang des 20. Jahrhunderts zu einem der profiliertesten Kamera-Zentren in ganz Deutschland machten. Viele von ihnen gingen später im VEB Pentacon auf. Andere Firmennamen wie der von Guthe und Thorsch sind bereits in der Nazi-Zeit ausradiert.

Die Familie von Benno Thorsch hatte mütterlicherseits jüdische Wurzeln. Tief genug, um nach der Rassenlehre der Nazis früher oder später in Bedrängnis zu kommen, befürchtete Bernwards Vater. Benno B. Thorsch will gehen, solange es noch geht. Nicht überstürzt, sondern gut, nahezu akribisch vorbereitet. 1937 reist er zunächst allein in die USA und schaut sich um.

Wie es zu dem Kontakt kam, ist noch nicht genau erforscht, doch Benno B. Thorsch lernt den Eigentümer des Foto-Geschäfts „Stutz Photo Service“ in Detroit kennen – einen gewissen Karl Spanköbel. Kein Unbekannter in Dresden. In den USA ändert Spanköbel seinen Namen in Charles A. Noble, der später auch durch seine Kameras berühmt werden wird. Die Männer werden sich einig: Noble gibt sein Unternehmen Thorsch, der gibt ihm seine Dresdner Firma. Ein ungleiches Geschäft, wie später das US-Justizministerium feststellen wird. Thorsch gab in Dresden einen Wert von 280000 Dollar auf, Nobles Gegengabe soll etwa 30000 Dollar wert gewesen sein.

Bernward Thorsch besucht 1930 bis 1931 die Freie Schule Dresden, dann die Oberrealschule in Johannstadt. Nach zwei Jahren auf einer Privatschule in St. Gallen schließt er eine Mechaniker-Lehre an den Technischen Lehranstalten der Stadt Dresden ab. „Wir gehen nach Amerika, hat uns der Vater nur gesagt“, erinnert sich Bernward Thorsch heute nur noch schwach. „Ich wußte etwas, aber nicht viel.“ Und gar nichts von dem Leben, was sich völlig ändern sollte. Ganz genau erinnert sich Bernward Thorsch dafür an den Flug, damals von Dresden nach Hamburg. Und an die Angst an Bord der Maschine. „Meine Schwester machte mir ein Zeichen, dass ich nichts sagen sollte“, legt Bernward Thorsch zwei Finger über seine Lippen. „Göbbels war mit im Flugzeug, und wir hatten solche Angst, dass in letzter Sekunde noch etwas schiefgehen könnte“, sagt Thorsch. Viel hat die Familie nicht dabei bei ihrem Aufbruch in die ungewisse, aber sichere Ferne, nur soviel Gepäck, dass es nicht verdächtig wäre. Aber der Vater hatte offenbar auch alle Papiere so gut versteckt dabei, dass der Start in der neuen Heimat reibungslos klappen sollte. Bernward, der damals 17-Jährige nimmt seinen Rechenschieber mit, Zeicheninstrumente – und ein paar Schrauben. Als Kind hatte er im Kamera-Werk des Vaters oft auf dem Boden mit Schrauben gespielt. „Oder mit Kameras“, erinnert sich Bernward Thorsch. „Ich habe sie alle bis auf das letzte Teil auseinandergenommen.“ Früh entsteht die Liebe zu Kameras, die Leidenschaft für Technik, für immer neue Erfindungen. All das wird vom Vater auf den Sohn vererbt.

Am 23. Februar 1938 geht Benno B. Thorsch mit seinen beiden Kindern Irmgard und Bernward in Hamburg an Bord der S.S. Washington. Das Schiff wird später im Zweiten Weltkrieg als US-Truppentransporter dienen. Am 4. März kommen die Drei – die Mutter bleibt zurück, denn die Ehe wird kurz zuvor geschieden – in der Neuen Welt an. Das Schiff fährt vorüber an der Freiheitsstatue. Das neue Leben der Thorschs beginnt.

Benno B. Thorsch, der technisch sehr begabt und auch kaufmännisch versiert gewesen sein muss, gewinnt unternehmerisch in der neuen Heimat schnell wieder an Boden. Für Bernward Thorsch beginnt die Militärzeit. Und er weiß schnell, wie er seinen geringen Sold aufbessern kann. „Ich habe die Kameras der Kameraden repariert, damit konnte ich mir ein wenig dazuverdienen“, erzählt er.

Fachgeschäft in Los Angeles

„Ich konnte jede Kamera reparieren. Ich habe sie einfach ganz auseinandergenommen und dann wieder zusammengesetzt. Dann wußte ich, welche Idee dahintersteht“, sagt Bernward Thorsch. Vater und Sohn verkaufen das ehemalige Noble-Unternehmen. Gemeinsam starten sie 1944 in Los Angeles eine neue Geschäftsidee – Verkauf und Reparatur von Kameras. Das „Studio City Camera Exchange“ wird legendär in der Stadt. „In Los Angeles war ich der Einzige, der eine Minox reparieren konnte“, sagt Bernward Thorsch stolz. Sein Vater stirbt 2003 – da ist er 105 Jahre alt.

„Ich mag die Kameras von früher“, sagt Bernward Thorsch. „Von den heutigen, diesen digitalen, halte ich nichts.“ Unseren Fotografen, der ratternd in aller Eile ein Bild nach dem anderen von dem Mann im Rollstuhl schießt, fragt er interessiert: „Was ist denn das für eine Kamera?“ Als er das Modell hört, winkt Thorsch verächtlich ab.

Heute lebt Bernward Thorsch mit seiner Tochter in Santa Barbara, im sonnigen Kalifornien. Das Alter hat ihm nur noch zehn Prozent seiner Sehkraft gelassen. Das hindert den passionierten Segelflieger nicht daran, auch weiterhin in die Luft zu gehen. Das Gefühl der Weite macht ihn glücklich, auch wenn er den Horizont nicht mehr sehen kann und ein Begleiter ihm die Augen ersetzen ersetzen muss.

An eine Rückkehr nach Deutschland habe er nie gedacht, sagt Bernward Thorsch, fast überrascht über die Frage. „Ich bin doch in den USA wie ein Eingeborener sagt er. „Aber ich bin stolz auf das, was meine Familie hier geschaffen hat.“

Von Annette Binninger

Karl Nolle im Webseitentest
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