Karl Nolle, MdL

Der Spiegel 51/2011 Seite 63, 17.12.2011

Terrorzelle: Der braune Virus

Uwe Mundlos gilt als Anführer der Zwickauer Terrorzelle, die von 2000 bis 2007 zehn Menschen ermordet haben soll. Sein Vater sagt, er könne das immer noch nicht glauben. Wer war Uwe Mundlos?
 
Anfang November rief bei Familie Mundlos eine Frau an und sagte, Uwe sei tot. Die Anruferin war Beate Zschäpe. Fünf Wochen später sitzt der Vater in einem Restaurant in Jena vor einem Teller mit Rinderroulade und flüstert, er halte es für denkbar, dass Zschäpe vom Verfassungsschutz bezahlt worden sei. Bis auf ein älteres Ehepaar, das Suppe löffelt, ist niemand zu sehen, aber Siegfried Mundlos spricht so leise, als säßen da Spione. Uwes Tod hat die alten Ängste aufgewirbelt. Die Vergangenheit quillt hoch. Für Siegfried Mondlos beginnt diese Geschichte nicht erst mit dem Anruf vor sechs Wochen, sondern wesentlich früher, Anfang der Neunziger.

Warum ist Uwe abgetaucht? Weil er Freunde nicht im Stich lassen wollte? Wie viel wussten die Behörden, was wissen sie heute? Und vor allem: War um hat sich Uwe nie gemeldet? Der Vater ruderte durch die letzten Wochen wie durch Nebelbänke.

Am 4. November wurden sein Sohn und Uwe Böhnhardt tot in einem Wohnmobil gefunden. Wenige Tage später stellte sich Beate Zschäpe der Polizei. Das Bundeskriminalamt macht die braune Terrorzelle für den Mord an zehn Menschen verantwortlich. Siegfried Mundlos, der Vater, glaubt inzwischen alles und nichts. Sein Sohn soll der Anführer des Trios gewesen sein, schreiben die Zeitungen, der Kopf der Zelle. Der Vater fragt sich, wer hinter all dem steckt. Jemand muss verantwortlich sein, die Polizei, der Verfassungsschutz, Beate Zschäpe. Aber sein Sohn?

Siegfried Mundlos hat 1978 an der Jenaer Universität seine Doktorarbeit in Theoretischer Mathematik über periodische Funktionenräume, die Interpola tionstheorie und elliptische Differentialoperatoren geschrieben. Seit Anfang der Neunziger lehrt er Informatik. Er kommuniziert in kristallklaren Formeln, und wie viele Menschen, die schnell denken, überholen die Gedanken manchmal seine Worte. Siegfried Mundlos musste lernen, Unwägbarkeiten in seinen Wortschatz aufzunehmen. Er sagt oft „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“.

Es hat zwei Briefe und ein längeres Telefonat gebraucht, bis er zu einem Gespräch bereit war. Nun ringt er mit dem Unbegreiflichen – dass der eigene Sohn ein Serienmörder, Türkenhasser, Nazi, Angstmacher, Menschenverletzer gewesen sein muss. Warum hat Uwe das getan? Was hat ihn dazu getrieben? Siegfried Mundlos sagt: „Ich finde unerträglich, was mein Sohn gemacht hat, gemacht haben soll. Das ist beschämend und durch nichts zu entschuldigen.“ Er wird das noch häufiger sagen. Er sagt aber auch, dass es ihn ärgere, wie die Behörden mit der Sache umgingen.

Mundlos hielt seinen Sohn nie für einen Anführer, „er war fast schüchtern und im Organisieren deppisch“. Aber da ist der Vater vorsichtig geworden. Weiß er von Uwe genug, um zu urteilen?

Sicher ist, dass Uwe Mundlos am 11. August 1973 in Jena geboren wurde, als jüngerer von zwei Söhnen. Sein Bruder ist zwei Jahre älter und leidet an einer spastischen Lähmung, seit er bei der Geburt zu wenig Sauerstoff bekam. Uwe habe sich liebevoll gekümmert, sagt der Vater. Nachbarn sahen Uwe, wie er den Bruder im Rollstuhl durch Winzerla schob, einen Stadtteil im Süden Jenas.

Uwe sei kein einfaches Kind gewesen, sagt Siegfried Mundlos, „er war schwierig zu handhaben“. Er wäre gern mit seinen beiden Söhnen wandern gegangen, auf Berge gestiegen, hätte mit ihnen Fußball gespielt, aber das ging nicht. Sie versuchten, Uwes Bruder das Laufen beizubringen, als Zehnjähriger humpelte er einige Meter weit durch die Wohnung. Es war ein Triumph für die Eltern. Siegfried Mundlos sagt: „Für das zweite Kind hat das immer gewisse Einschränkungen.“

Uwe verließ die Magnus-Poser-Oberschule in Jena nach der zehnten Klasse, um beim Optikunternehmen Carl Zeiss eine Ausbildung zum Datenverarbeitungskaufmann zu beginnen. Siegfried Mundlos hatte bei Zeiss in den Siebzigern an Holografien und optischen Speichern geforscht und Kontakte in die Firma. Uwe war geschickt mit Computern und lernte unter anderem, Datenbanken zu programmieren. Er sei ein schlauer Junge gewesen. Wäre die Wende nicht gekommen, sagt sein Vater, wären bei Zeiss nicht Tausende Stellen gestrichen worden, hätte Uwe einen Arbeitsplatz gehabt.

Stattdessen stand Uwe mit 18 vor der Arbeitslosigkeit. Seine lange Mähne schnitt er ab, zog sich Springerstiefel und eine Bomberjacke an. Schon 1991 bezeichnete er sich als „national“, war aber offenbar noch weit entfernt davon, ein Nazi zu sein. Seine Freunde waren die Jungs aus der Nachbarschaft, Punks, Skins, sie hörten AC/DC. Es war eine große Clique. Uwe streunte mit Beate Zschäpe, die mit ihrer Mutter in einem der Häuser wohnte, um die Wohnblocks von Winzerla. Der Stadtteil sei voller Jugendlicher gewesen, die nicht wussten, was ihnen die Zukunft bringen würde, sagt Uwes Vater. Über ihre Lehrer, die vor kurzem noch überzeugte Sozialisten und nun auf einmal ebenso überzeugte Demokraten waren, hätten sie gelacht, genau wie über Polizisten und die anderen scheinheiligen, vom Staat bezahlten Wendehälse.

Im Sommer 1991 beschloss die Stadtverwaltung, einen ehemaligen Jugend club der FDJ wiederzueröffnen. Er sollte ein „Anlaufpunkt sein, um sich zu treffen, Sorgen abzulassen, Hilfe zu bekommen, wenn man Probleme mit Eltern, bei der Arbeitssuche oder Ämtergängen hat“, wie es in einer Selbstdarstellung des neuen „Winzerclubs“ hieß. Es gab Bier, aber keinen Schnaps, die Schwelle sollte niedrig sein. Uwe strich Wände und schaffte Möbel in die Räume des renovierten Jugendclubs. Die Sozialarbeiter nahmen Uwe auf, obwohl er in Springerstiefeln und Bomberjacke erschien.

Der Winzerclub unterschied sich von anderen Jugendclubs in Jena, vor allem von der Jungen Gemeinde in der Stadtmitte, die von der evangelischen Kirche finanziert wird. Lothar König, der Jugendpfarrer, kritisierte die rechten Umtriebe in Winzerla damals heftig. Er baute die Junge Gemeinde auf, nachdem Randalierer sie in Schutt und Asche gelegt hatten, die Räume wurden etwa zur selben Zeit fertig wie der Winzerclub ein paar Kilometer südlich. Uwe Mundlos wuchs in einer Zeit auf, in der die Jugendarbeiter in Jena darüber stritten, wie man mit Nazis umgehen sollte. Linke und Rechte standen sich unerbittlich gegenüber. Zecken gegen Faschos.

Uwe freute sich über den Winzerclub wie über die erste eigene Wohnung. Auf einem Foto, das ein Reporter der „Ost thüringer Zeitung“ bei der Eröffnungsfeier aufgenommen hat, sitzt Mundlos auf einer Bierbank, er trägt eine Bomberjacke, im Hintergrund spielen zwei Männer Dudelsack und Flöte. Uwe lacht. Die Zeitung zitiert ihn mit den Worten: „Wir haben einen Raum gesucht und haben einen Raum gekriegt. Wenn wir Probleme haben, können wir mit den Streetworkern quatschen, und wenn’s hart auf hart kommt, gehen wir einen trinken.“

Uwes Vater sagt, damals sei sein Sohn noch kein Nazi gewesen. Er und seine Freunde wollten mit den Springerstiefeln, den schwarzrotgoldenen Hosenträgern, den Bomberjacken und den kurzen Haaren vor allem Aufmerksamkeit erregen. Militant seien sie nicht, sagte Uwe 1991.

Uwe sei oft mit Beate Zschäpe im Winzerclub gewesen, erzählt Thomas Grund, der Sozialarbeiter, den alle „Kaktus“ nennen. Uwe sei „clever“ gewesen, der Kerl mit den durchdachten Argumenten, Beate nur ein „verirrtes Schaf“. Kaktus war im Winzerclub eine Art Gegenpol zu Lothar König von der Jungen Gemeinde. Sie mögen sich bis heute nicht besonders. Kaktus erzählt, Anfang der Neunziger habe es heftige Debatten darüber gegeben, wie mit rechtsextremen Jugend lichen umzugehen sei. Lothar König war gegen den Versuch, die Glatzen einzubinden, Kaktus war dafür, auch weil in Winzerla und Umgebung so viele Glatzen her umliefen.

Auf Videobildern, die Kaktus im Winzerclub von 1991 bis 1994 aufgenommen hat, kann man junge Männer erkennen, die in diesen Wochen in Zeitungsberichten auftauchen. Kaktus hat die Bilder zum vierjährigen Jubiläum des Clubs zusammengeschnitten und auf YouTube hochgeladen. Ralf Wohlleben, der auf dem Video an der Bar zu sehen ist, wurde vor kurzem festgenommen. Auch André Kapke, ebenfalls Gast des Winzerclubs, war ein alter Freund von Uwe Mundlos. Es sieht aus, als sei der Club Anfang der Neunziger der Treffpunkt für Nachwuchs-Nazis gewesen.

Lothar König sagt: „Ohne dieses Jugendzentrum hätte es die Rechten in dem Ausmaß nicht gegeben.“ Im Winzerclub saßen die Feinde, aus Königs Sicht. Kaktus sagt: „Hättest du damals die Glatzen draußen gelassen, hättest du die Hälfte der Gäste ausgesperrt.“ Wenn sich der Winzerclub nicht um die Jungs und Mädchen gekümmert hätte, gäbe es noch viel mehr Nazis, aus Kaktus’ Sicht.

Den Winzerclub gibt es noch, er heißt jetzt „Hugo“ und steht ein paar Meter vom alten Gebäude entfernt. Kaktus arbeitet noch immer als Streetworker in Winzerla. Lothar König leitet die Junge Gemeinde nach wie vor, die Neunziger haben eine Narbe über seinem rechten Auge hinterlassen, er wurde zusammengeschlagen. Den beiden Männern sind die Kämpfe anzusehen.

Ab 1993 habe sich Uwes Gesinnung gefestigt, sagt sein Vater. Die gesamte rechtsradikale Szene der Stadt wurde aggressiver. Die Streetworker in Winzerla unterschieden zwischen Glatzen und Faschos. Mit Glatzen konnte man reden, mit Faschos nicht, weil die politisch geschult waren. Uwe gehörte bald zu den „Kadern“, sagt Kaktus, er war nicht mehr willkommen.

Uwe fing an, von der „Auschwitz-Lüge“ zu reden und entwickelte ein Faible für Rudolf Heß, Hitlers Stellvertreter. Er war häufig mit seinem Freund Uwe Böhnhardt unterwegs, einem gelernten Hochbaufacharbeiter mit Hauptschulabschluss, der weniger politisch war als Mundlos. Böhnhardt hatte schon als Kind Benzin geklaut, mit 15 kam er drei Monate wegen Erpressung in Untersuchungshaft.

Die beiden zogen braune Hemden an, schnallten sich Koppel um die Hüften und liefen mit schwarzen Stiefeln durch die Stadt. Sie sahen aus wie von der Hitlerjugend. „Da hätte nur noch ein Schild über der Brust gefehlt: Ich bin bekennender Neonazi“, sagt Siegfried Mundlos. Er fand das grauenvoll. Aber was hätte er als Vater tun können? Sein Sohn war erwachsen. Der Vater appellierte an Uwes Vernunft. „Ich habe gesagt: ‚Mensch Uwe, das ist doch Unfug, du kannst die Geschichte nicht zurückdrehen. Das sind Kindereien.‘“ Ein anderes Mal habe er gesagt: „Uwe, das sieht aus wie Karneval. Damit machst du dir doch keine Freude.“

Siegfried Mundlos streicht mit den Händen über die Tischdecke. Hätten die Eltern das Abgleiten ihres Sohns verhindern können? Sie hätten es probiert, sagt er. Er sei mit Uwe ans Meer gefahren, als er hörte, dass Nazi-Bands in der Nähe auftraten, und hat Uwe und Beate an einen Baggersee in der Nähe gebracht, wo sie im Zelt übernachteten. Vielleicht würde frische Luft helfen. „Ich habe die beiden auch in den Campingurlaub bis nach Mecklenburg gefahren und nach vier Wochen abgeholt.“ Ein Monat im Zelt verändert einen Menschen nicht grundlegend, das weiß Siegfried Mundlos. Er habe versucht, ein guter Vater zu sein.

Macht er sich Vorwürfe? „Jeder Mensch hat ein gewisses Eigenleben. Alles, was man sich einfallen lassen konnte, habe ich gemacht. Ich konnte einfach nichts dagegen tun.“ Es klingt, als sei Uwe von einem Virus befallen gewesen. Vater und Mutter mussten um beide Söhne kämpfen: um Uwes Bruder, der wieder laufen sollte, und um Uwe, der zur Vernunft kommen sollte.

Siegfried Mundlos trinkt in schnellen Zügen sein Bier leer. Es sieht aus, als wolle er aufstehen, aber er steht nicht auf. Er knetet seine Finger. Was soll das bringen, über die Kindheit und Jugend seines Sohnes zu sprechen, über etwas, das so lange schon vergangen ist?

Wann Uwe sich von der Familie löste, weiß er nicht genau zu sagen – gut möglich, dass es 1994 war, nach Chemnitz. Uwe hatte sich in Chemnitz zwei Tage nach seinem 21. Geburtstag mit Kameraden zum Heß-Todestag verabredet. Die Stadtverwaltung hatte ein Versammlungsverbot erlassen, Uwe wurde festgenommen, die Polizisten fanden bei ihm Visitenkarten mit seiner Adresse und einem Bild von Hitler. Siegfried Mundlos sagt, auf der Karte sei gar nicht Hitler zu sehen gewesen, sondern Charlie Chaplin, verkleidet als Hitler. Die Kriminalpolizei leitete ein Verfahren wegen Verwendung von Kennzeichen verfassungsfeindlicher Organisationen ein und beantragte eine Hausdurchsuchung.

Die Beamten klingelten erst bei den Eltern, dann bei Uwes Bruder im Erdgeschoss. Das reichte dem Vater. „Ich habe gesagt, das passiert kein zweites Mal. Das kannst du deinem Bruder nicht zumuten.“ Uwe antwortete, das werdet ihr jetzt häufiger erleben. Siegfried Mundlos suchte seinem Sohn deshalb eine Wohnung. Uwe zog in ein kleines Dorf, abseits der Stadt, und seine Eltern hofften, dass Uwe dort zur Besinnung kommen möge.

Nach dem Unterricht arbeitete Uwe an einem
Rudolf-Heß-Bild, einem feingezogenen Bleistiftporträt.

In dieser Zeit, im Herbst 1994, trat in Thüringen erstmals die AntiAntifa auf, eine NaziTruppe, die mit Knüppeln und Schlagringen gegen Linke vorging. Die Linken wehrten sich. „Es war eine Zeit, in der sich die Gruppen gegenüberstanden“, sagt Lothar König, der Jugendpfarrer. Von 1993 bis 1995 ermittelten die thüringischen Behörden in 1257 Straftaten mit rechtsextremistischem Hintergrund.

Es war schwer, Arbeit zu finden, Carl Zeiss entließ weiter Leute. Uwe Mondlos
beschloss, seinen Wehrdienst bei der Bundeswehr in Bad Frankenhausen abzuleisten, etwa 70 Kilometer nördlich von Jena, wo das Panzergrenadierbataillon 381 stationiert ist. Am Wochenende fuhr er zu seiner Freundin Beate Zschäpe. „Uwe hat Beate über alles geliebt“, sagt ein früherer Freund aus Winzerla. Als Uwe den Wehrdienst beendet hatte, machte Beate Schluss.

Sie war schon vorher nicht beliebt bei Uwes Eltern, seit sie die Mutter wegen einer Kleinigkeit angefaucht hatte. Uwes Vater sagt, er habe versucht, in Beate das Mädchen aus einfachen Verhältnissen zu sehen, das als Kind wenig Sicherheit abbekommen hatte. Es war nicht einfach.

Im Herbst 1995 wechselte Uwe auf das IlmenauKolleg, eine staatliche Bildungseinrichtung, in der er das Abitur nachholen wollte, und bezog ein Zimmer im Christlichen Jugenddorf. Wieder hofften seine Eltern, dass alles besser würde.

Die Wochenenden verbrachte Uwe mit seinen Kameraden in Jena. Seine ExFreundin Beate hatte jetzt einen neuen Freund, Uwe Böhnhardt, seinen Kumpel. Nichts war besser geworden, im Grunde war alles beschissener für Uwe. An einem Samstag im Februar 1996 fuhr er mit anderen Braunhemden im AutoKonvoi durch das thüringische Rudolstadt. Sie schwenkten Fahnen, grölten Parolen und spielten Marschmusik. Kurz darauf wurde Mundlos von Polizisten nahe Sonneberg festgehalten, weil er ein verbotenes Gau-Abzeichen trug.

Ein ehemaliger Mitbewohner im Christlichen Jugenddorf sagt, er habe Uwe häufig in Uniform gesehen. Nach dem Unterricht habe Uwe an seinem Schreibtisch an einem Rudolf-Heß-Bild gearbeitet, einem feingezogenen Bleistiftporträt. Ein Mitschüler sagt, Uwe sei zwar erkennbar rechts gewesen, aber freundlich zu den meisten in seinem Jahrgang. Er habe anderen in Chemie geholfen, und wenn er seine Notizen aus dem Unterricht nicht selbst vorbeibringen konnte, schickte er ein Braunhemd vorbei. Uwe hat Einfluss, dachten seine Mitschüler. Sein Vater dachte, wenn er das Abitur hat, wenn er studiert, wenn er nur ein halbes Jahr an der Uni ist, kommt er raus aus dem Sumpf.

Die Kellnerin stellt Kaffee auf den Tisch. Siegfried Mundlos will nicht mehr über die Vergangenheit seines Sohnes reden. „Zur Klärung der jetzigen Vorgänge bringt das wenig.“ Zu den jetzigen Vorgängen gehört die Frage, was der Verfassungsschutz wusste, die Behörden. Siegfried Mundlos bestellt die Rechnung, er will wieder gehen und bleibt doch sitzen. Von 1996 an geht Uwe vermehrt zu rechten Konzerten, Kundgebungen und Feiern. Es ist die Phase, in der er radikaler wird.

Die Jenaer Kriminalpolizei hat damals eine Chronologie erstellt. 13. Juni 1996: „Teilnahme an einer Veranstaltung mit Führungspersönlichkeiten der rechten Szene“; 22. Juni: Teilnahme an der Sonnwendfeier mit Nazis aus ganz Thüringen; 6. August: Mundlos und Böhnhardt verteilen Zettel mit der Aufschrift: „Wir gedenken Rudolf Heß“, und so weiter. Die Kripo-Beamten schrieben, Mundlos zeige „keinerlei Kooperationsfähigkeit“, unterschreibe aus Prinzip keine behördlichen Protokolle und fühle sich als „Verfolgter der herrschenden Staatsstruktur der BRD“.

Uwe Böhnhardt drehte weiter ab. Im Sommer 1996 wurde gegen ihn ermittelt, weil er eine Puppe mit einem Davidstern und einer Bombenattrappe an eine Brücke gehängt haben soll.

Mundlos und Böhnhardt steigerten sich in ihren Wahn, Verfolgte eines deutschen Regimes zu sein. Sie fühlten sich durch ihr Äußeres diskriminiert, das habe ihnen die nötige Legitimation verschafft, sagt Uwes Vater. Wurden sie denn nicht ständig kontrolliert, festgenommen, freigelassen, wieder kontrolliert? Sie waren Feinde des Systems, Rebellen gewissermaßen. Und Rebellen dürfen sich wehren, notfalls mit Gewalt.

Zum Jahreswechsel 1996/97 ging bei der Poststelle der Stadt Jena eine Briefbombenattrappe ein, der ein Zettel beigelegt war: „Auge um Auge, Zahn um Zahn. Dieses Jahr kommt Dewes dran!!!“ Richard Dewes war der thüringische Innenminister. In der Lokalredaktion der „Thüringischen Landeszeitung“ landete eine Attrappe mit der Botschaft: „Von Lüge und Betrug haben wir genug! Das wird der letzte Scherz sein. Ab 97 haut es richtig rein!!!“ Die Absender wurden nie ermittelt. An mehreren anderen Orten in Jena tauchten ähnliche Bombenattrappen auf.

Am 6. Januar 1997 betrat Uwe Böhnhardt das Ordnungsamt der Stadt, Zimmer 416, um sich zu erkundigen, welche Schusswaffen ein Bürger mit sich führen darf. Kann die Waffe geladen sein, oder muss das Magazin entfernt werden?

Uwe Mundlos war der Überzeugung, dass die Öffentlichkeit wachgerüttelt werden müsse. Ein Drohbesuch im Ordnungsamt war ihm zu banal. Für den 8. Februar meldete er einen Protestmarsch ins Stadtzentrum an, als Begründung schrieb er: „Aus unserer Sicht bestehen erste Ansätze eines Polizeistaates (mit den Folgen des Polizeiterrors und der politischen Verfolgung).“ Der Marsch wurde untersagt.

Mundlos erschien zu Kundgebungen mit seinen beiden Freunden Zschäpe und Böhnhardt. Als die Polizei am 26. Januar 1998 in einer Garage, die Beate Zschäpe gemietet hatte, 1,4 Kilogramm Sprengstoff fand, tauchten die drei unter.

„Die Bombengarage“, sagt Siegfried Mundlos. Im Nachhinein lässt sich natürlich das gesamte Leben seines Sohnes als perfekte Eskalation beschreiben, aber so sieht er es nicht. Siegfried Mundlos konnte nicht verstehen, dass gegen Uwe Haftbefehl wegen „Vorbereitung eines Explosionsverbrechens“ erlassen wurde. Der Vater glaubte an ein Missverständnis, aber er wusste nicht mehr viel über Uwe. Er hätte ihn am liebsten einem Richter übergeben, der die Vorwürfe ausräumen könnte. Stattdessen konnte er sich nur kurz von Uwe am Telefon verabschieden, zwei Tage nach der Durchsuchung. „Er hat gesagt: ,Ich verlasse euch für längere Zeit. Hab euch lieb.‘ Basta. Dann war er weg.“

Zielfahnder und der Verfassungsschutz meldeten sich. Der Vater solle eine Kreditkarte zur Verfügung stellen, hieß es, die Karte würde Uwe über einen Mittelsmann zugespielt. So würde man ihm auf die Spur kommen. Der Telefonanschluss von Familie Mundlos wurde abgehört. Alle wollten Uwe. Für Siegfried Mundlos sah es so aus, als trauten sich die Beamten gegenseitig nicht. Eines Tages standen zwei Männer vor der Tür und sagten, wenn Uwe sich zu Hause melde, solle er den Verfassungsschutz aus einer öffentlichen Telefonzelle anrufen, damit die Polizei nicht mithören könne.

Siegfried Mundlos besuchte Ende der Neunziger einen Vortrag von Helmut Roewer, dem damaligen Verfassungsschutzpräsidenten von Thüringen. In der ersten Reihe habe eine Handvoll Neonazis gesessen, wie Ehrengäste. Roewer wurde 2000 nach einer Reihe von Skandalen suspendiert, heute ist er im Ruhestand. Mundlos fragt sich, warum Roewer noch zu allem schweigen dürfe. Es sei doch möglich, sagt er wieder, dass Zschäpe für den Verfassungsschutz tätig war. „Ich kann aber auch nur spekulieren.“ Es müsse endlich jemand auspacken, egal wer. Mundlos ist ein Vater, der das Unglaubliche, was sein Sohn angerichtet hat, nicht begreifen kann und der die Schuld auch bei anderen sucht. Er sagt, wenn endlich alle Fragen geklärt sind, würde er sich gern bei den Hinterbliebenen der Opfer entschuldigen, aber im Moment sei er für diese Menschen „ein rotes Tuch“. Als er nach vier Stunden vor die Tür tritt, legt sich die Dämmerung über Jena. Er wirkt leichter.

Von Christoph Scheuermann

Karl Nolle im Webseitentest
der Landtagsabgeordneten: