Karl Nolle, MdL

DNN/LVZ, 16.12.2011

Sachsen war während der NS-Zeit (lt. Statistik der NSDAP) der braunste Gau.

"Vorwürfe schnell bei der Hand" - Historiker Armin Nolzen zur NSU-Zelle / NSDAP-Statistik ausgewertet
 
Dresden/Bochum. Sachsen war während der NS-Zeit der braunste Gau - wenn man der Parteistatistik der NSDAP glaubt. Der Historiker Armin Nolzen von der Ruhr-Universität Bochum hat die Zahlen von 1935 aufbereitet, neue Denkansätze für die geschichtliche Bewertung Sachsens erarbeitet und diese auf einer Konferenz des Dresdner Hannah-Arendt-Instituts vorgestellt. Im Interview spricht er über die hohe Bereitschaft der Sachsen, sich politisch zu engagieren und die Auffälligkeit, dass sich heute wieder eine Neonazi-Zelle auf sächsischem Boden gebildet hat.

Frage: Herr Nolzen, was sagt die Parteistatistik der NSDAP über Sachsen während der NS-Zeit aus?

Armin Nolzen: Wenn man sich die Zahlen vom 1. Januar 1935 ansieht, lässt sich feststellen, dass von damals 2,5 Millionen NSDAP-Mitgliedern 235000 in Sachsen lebten. Das ist fast jeder Zehnte Parteigenosse. Damit lag Sachsen bei mehr als 30 Gauen mit Abstand vorn. Auch bei den angeschlossenen Verbänden der Partei lag Sachsen weit vorn. Zum Teil waren mehr als zehn Prozent der reichsweiten Mitglieder in Sachsen organisiert.

Lässt sich daraus schließen, dass Sachsen der braunste Gau war?

Man muss die Zahlen ins Verhältnis setzen. Sachsen war mit 5,2 Millionen Einwohnern der am dichtesten besiedelte Gau. Auf ein NSDAP-Mitglied kamen 22 Einwohner, da lag Sachsen eher im Mittelfeld. Auch bei den Gliederungen der NSDAP wie SS oder Hitlerjugend ist Sachsen nicht ganz vorn. Insgesamt lassen die Zahlen darauf schließen, dass die NSDAP in Sachsen vor allem im bürgerlichen Milieu beheimatet war, anders als in Ostpreußen oder Berlin, wo es mehr radikales Gewaltpotential gegeben hat. Das relativiert die These vom braunsten Gau.

Dennoch entsteht der Eindruck, dass die NSDAP in Sachsen mit ihrem Gedankengut auf fruchtbaren Boden fiel.

Dass sie sich in Sachsen so gut aufstellen konnte, lässt auf einen hohen Organisierungsgrad schließen. Die Parteiarbeit beruhte gerade auf den untersten Ebenen auf ehrenamtlicher Tätigkeit. Da scheint es in Sachsen ein besonderes Bedürfnis gegeben zu haben, sich zu engagieren. Auch das Stadt-Land-Gefälle scheint geringer als in anderen Gauen gewesen zu sein. Zudem waren die mittleren und unteren sächsischen Funktionäre eng an ihr Herkunftsmilieu gebunden. Der Sicherheitsdienst der Partei hatte zudem offenbar keinerlei Probleme, Spitzel für seine Dienste in den Verwaltungen zu finden.

Wie lässt sich diese Auffälligkeit für Sachsen erklären?

Da gibt es bisher nur Denkansätze. Zum Beispiel waren alle Kreisleiter Sachsens alte Kämpfer, die bereits vor 1930 in die NSDAP eingetreten waren und wussten, wie die Partei funktionierte und durch ihre hohe lokale Bindung für eine bessere Vernetzung in die verschiedenen Milieus sorgen konnten. Diesen Vorteil aus NS-Sicht hatte kein anderer Gau. Dass so viele Sachsen in die Partei eintraten, ist auffällig. Es gab zwar einen gewissen Druck, aber der Eintritt beruhte auf Freiwilligkeit. Das könnte mit dem Prozess der Politisierung der Gesellschaft durch die NSDAP erklärt werden, der zum Teil bis heute nachwirkt.

Wie äußert sich diese Nachwirkung?

Die politische Aktivität von kommunistischen und sozialdemokratischen Milieus vor 1933 taucht nach Kriegsende kaum wieder auf, während frühere NSDAP-Mitglieder auch nach 1945 in Ost und West in Parteien eintreten und Ämter übernehmen. Da wurde eine Gruppe von Leuten politisch geprägt.

Lässt sich damit auch die politische Aktivität der Sachsen in der Folgezeit erklären? Immerhin waren sie am Juni-Aufstand 1953 und am Wendeherbst 1989 nicht unerheblich beteiligt.

Es ist eine interessante Frage, ob es einen sächsischen Wutbürger gibt. Das ließe sich auch sehr positiv interpretieren. In Sachsen ist offenbar eine Gesellschaft vorzufinden, die sehr empfänglich ist für politische Umbrüche.

Derzeit ist die Zwickauer Neonazi-Zelle das bestimmende Thema in Deutschland. Lassen sich die Erkenntnisse über die Politisierung in Sachsen in der NS-Zeit mit der heutigen Entwicklung in Verbindung bringen?

Es fällt schon auf, dass es Zwickau ist. Wenn so etwas aus den neuen Bundesländern - nicht nur in Sachsen - passiert, ist man mit Vorwürfen immer schnell bei der Hand. Aber ich warne davor, irgendwelche Regionen zu neonazistischen Abschnitten zu erklären. Die Morde, um die es hier geht, sind nicht in den neuen Bundesländern geschehen. Dazu müsste geklärt sein, ob die Betreffenden überhaupt in der DDR aufgewachsen sind und deren autoritäre Mechanismen direkt auf sie übergehen konnten. Eine Frage, die man sich eher stellen kann, ist, ob eine Gegend wie die um Zwickau einen besseren Rückzugsraum für ein Leben in der Illegalität bietet als beispielsweise Berlin oder Hamburg.

Interview: Sebastian Fink

Armin Nolzen (geboren 1968) studierte Geschichtswissenschaft, Germanistik, Sozialwissenschaften und Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Von 1994 bis 1997 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter dort. Er ist Redakteur der jährlich einmal erscheinenden Reihe „Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus" und promoviert derzeit bei Professor Hans Mommsen in Bochum zum Thema „Rudolf Heß, Martin Bormann und die Geschichte der NSDAP, 19331945". Er forscht außerdem zur Geschichte der Hitlerjugend, zur Parteigerichtsbarkeit der NSDAP und zur Gewalt gegen Juden sowie zur Geschichte autoritärer Regime nach 1945, die Historische Sozialisationsforschung und die Geschichte von Jugend und Familie.

Karl Nolle im Webseitentest
der Landtagsabgeordneten: