Karl Nolle, MdL

sz-online/Sächsische Zeitung, 14.02.2012

Der Tag, an dem Dresden zusammenhielt

 
Welchen Wert hat dieMenschenkette, wenn wir nicht jeden Tag aufs Neue den gewaltfreien Kampf gegen Nazis aufnehmen. Es ist eine der undankbarsten Aufgaben, Demonstrationen einer politischen Bewegung zu schützen, die wir Polizisten zutiefst verabscheuen.

Ab auf den Kompost! Die Kränze liegen abfahrbereit in einem kleinen Wägelchen, schräg hinter der Sandsteinmauer, an der sonst die Gestecke niedergelegt werden. Eine Delegation der NPD hat sie am Vormittag, Stunden vor der offiziellen Gedenkfeier, mehr oder minder unbeobachtet auf dem Heidefriedhof drapiert. Doch Kränze sind hier in diesem Jahr unerwünscht. Stattdessen werden dort am Nachmittag weiße Rosen niedergelegt. Doch die Rechtsextremisten verzichten diesmal auf die Teilnahme am Gedenkakt auf dem Heidefriedhof. Ein erster Erfolg? Jedenfalls sind nicht nur Vertreter jüdischer Gemeinden erleichtert, dass die Nazis dieses Mal nicht in einer Reihe mit ihnen stehen.

Und doch bleibt das Gedenken in der monumentalen Friedhofsarchitektur draußen am nördlichen Stadtrand vor allem eines: eine Herausforderung. Dresden nimmt sie wacker an. In diesem Jahr mit einer Rede an der Skulptur „Trauerndes Mädchen im Tränenmeer“. Der Landesvorsitzende der Kriegsgräberfürsorge, Dieter Landgraf-Dietz, sagt dort: „Die Zerstörung kam nicht aus heiterem Himmel.“ Und zitiert dann den jüdischen Autor Victor Klemperer: „Die Bomben trafen Arier und Nichtarier.“

Rund 200 Teilnehmer – darunter Regierungschef Stanislaw Tillich und Landtagspräsident Matthias Rößler – wandeln am umstrittenen Rondell vorbei, auf dessen Säulen Auschwitz genannt wird, Buchenwald, aber auch Dresden. An der dahinter liegenden Sandsteinmauer sagt Dresdens amtierender Oberbürgermeister Dirk Hilbert: „Rechtsextreme, die unsere Stadt an diesem Tag heimsuchen, wollen wir hier nicht – weder heute, am 13. Februar, noch an einem anderen Tag im Jahr.“

Diesen Satz hört Lothar König am Friedhofseingang nicht. Der Jenaer Jugendpfarrer hat seinen Talar angezogen. Unter einer Mütze mit dem Totenkopfemblem des Hamburger Fußballclubs FC St.Pauli quellen seine langen Haare hervor. „Darf man auf dem Friedhof rauchen?“, fragt der rauschebärtige Freibeuter Gottes, nachdem er es durch zwei Polizeikontrollen geschafft hat. Er raucht.

König, der nach den Antinazi-Protesten im vergangenen Jahr angeklagt wurde und viele Schlagzeilen machte, weiß sich zu inszenieren. Als der Gedenkakt, an dessen Rande mutmaßliche Linksautonome mit der Polizei rangeln, fast vorüber ist, setzt er vor der Mauer zu einer Art Predigt an. „Ich ehre hier keine Toten“, ruft er. Vater und Großvater seien Nazis gewesen. Es gehe darum, den Blick nach vorn zu richten. Dann setzt König zu einem harschen, zunächst schwer verständlichen Traktat an. Er sei – damals verfolgt vom DDR-Staat – bereits am 13. Februar 1982 an der Frauenkirche gewesen, als Friedenswillige an der Ruine erstmals Kerzen aufstellten. „Heute frage ich mich, ob das ein Fehler war.“ Aus der Aktion habe sich ungewollt das heutige Gedenken samt Großdemonstrationen und Neonaziaufmärschen entwickelt. Ganz abwegig ist dieser Gedanke nicht, auch wenn die DDR-Friedensbewegten mit Sicherheit keine Rechtsextremisten waren.

In der Frauenkirche hat an diesem grauen Montag bereits ein anderer Geistlicher ganz andere Worte gefunden. „Wir denken an die Betroffenen und Toten des 13.Februar 1945, aber auch an die vielen Zerstörungen und Brände, die von deutschem Boden ausgegangen sind“, sagt Pfarrer Holger Treutmann bei einer Friedensandacht. Und er mahnt zu friedlichem Protest: „Wir müssen etwas tun, hier ist kein Raum für rechtsextremistisches Gedankengut.“ Dem werden im Laufe des Tages auf Dresdens Straßen Tausende Menschen folgen. „Alle Formen des gewaltfreien Widerstandes sind notwendig. Dazu gehören auch friedliche Blockaden, sagt Nora Goldenbogen, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde.

Lange bevor die ersten Demonstranten auf der Straße sind, tobt der Schlagabtausch im Internet. Den ersten Etappensieg des Tages glauben Leipziger Nazis erreicht zu haben. Ein „Aktionsbündnis LE“ twittert am Vormittag, die Internetseite von „Dresden Nazifrei“ sei „down–1:0 für uns“. Tatsächlich ist die Seite der Initiative nur sporadisch erreichbar. Über Twitter und Facebook wird jedoch weiter über jede Entwicklung informiert, vor allem, wo gerade wie viele Menschen gegen was genau demonstrieren oder blockieren und wie sich die Polizei dazu verhält. Die Netzattacken laufen offenbar in beide Richtungen. Am Nachmittag ist auch die Seite, auf der Dresdner Neonazis für ihren Fackelmarsch am Abend mobilisieren, nicht mehr erreichbar.

Seit den Mittagsstunden schon hält die Polizei alle taktisch wichtigen Punkte zwischen den beiden großen Dresdner Bahnhöfen besetzt. Ein martialisches Polizeiaufgebot, insgesamt sollen mehr als 5000 Beamte aus mehreren Bundesländern im Einsatz sein. Über der Stadt kreisen Hubschrauber, Hunderte Einsatzwagen, mehr als zehn Wasserwerfer und Panzerwagen mit Schiebeschild sind rund um die Budapester Straße zusammengezogen und stehen bereit, um Auseinandersetzungen zwischen Nazis und linken Demonstranten zu verhindern. Am Hauptbahnhof haben die Beamten einen Busparkplatz und vier Toilettenhäuschen mit Gittern eingezäunt – als Auffangraum für die Nazis, die am Fackelzug teilnehmen wollen.

Bernhard Witthaut, der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, macht klar, dass auch die Ordnungshüter sich nicht wohl in ihrer Haut fühlen: „Es ist eine der undankbarsten Aufgaben überhaupt, Demonstrationen einer politischen Bewegung zu schützen, die wir als Polizisten, Staatsbürger und Gewerkschafter zutiefst verabscheuen.“ Der Gewerkschafter nutzt die Gelegenheit auch, um auf den Personalmangel hinzuweisen: die NPD werde zunehmend im ländlichen Raum aktiv, also genau dort, wo aufgrund von finanziellen Einsparungen Polizisten fehlten.

Gegen 15 Uhr versucht ein Grüppchen linker Demonstranten mit einem grünen Bollerwagen zur vermuteten Marschroute der Nazis zu gelangen. Die jungen Leute laufen mitten hinein in die wartenden Polizisten. Personenkontrolle. Etwa 20 Uniformierte freuen sich: Endlich mal was zu tun. Doch wenig später befinden sich rund 500 linke Aktivisten am World Trade Center und blockieren die vermutete Marschroute der Nazis. Bunt gekleidete Blockierer tanzen auf der Straße vor zwei bereitstehenden Wasserwerfern der Polizei.

Um 16.30 Uhr meldet „naziwatchdd“ dann bei Twitter den ersten Rechtsextremen am Hauptbahnhof: „Einzelner Nazis mit schwarzer Fahne gesichtet“. Es werden noch viele folgen.

Derweil reihen sich in der Innenstadt die Menschen nebeneinander. „Welchen Wert hat die heutige Menschenkette, wenn wir nicht jeden Tag aufs Neue den gewaltfreien Kampf gegen Nationalsozialismus, Rassismus und Fremdenhass aufnehmen?“, ruft der amtierende Bürgermeister Dirk Hilbert unter viel Beifall vorm Rathaus. Dann bilden die Zuhörer allmählich eine Reihe.Noch einmal etliche Dutzend kommen aus Richtung Stadion hinzu; Fans, Funktionäre und Spieler von Dynamo Dresden. Ein älterer Herr mit Blindenbinde lässt sich führen, ein junger Vater beruhigt sein schreiendes Baby, ein Liebespaar fängt schon vorzeitig mit Händchenhalten an. Karsten Mehlhorn zieht den Kopf tiefer in seinen Dynamo-Schal. „Für mich ist es selbstverständlich, an so einem Tag hier zu sein“, sagt er. Sein Freund Guido Sperling, um den Hals ebenfalls gelb-rote Wolle, muss ein wenig grinsen: „Sicherheitshalber habe ich ihm vorher noch eine SMS geschickt: ,Schal um, Arsch hoch!‘“

Wenige Meter weiter springt der 192Zentimeter lange Körper von Anna Cmaylo auf und ab. „Ich muss tanzen, weil mir ist kalt“, sagt die Angreiferin der Volleyballdamen vom DSC. Wer wie sie aus Kalifornien kommt, für den ist ein Tag wie der 13. Februar nicht nur witterungsbedingt herausfordernd. „Bei uns gibt es so etwas ja nicht“, erzählt Anna. „Wir haben mehr so Love and Peace. Aber ich bin schon zum zweiten Mal in der Menschenkette und finde es sehr wichtig, sich für Mut und Toleranz einzusetzen und gegen reks ..., gegen rechtex ...“; der Rechtsextremismus ist auch phonetisch eine heikle Sache.

Vom Rathaus aus schiebt sich die Menge in Richtung Augustusbrücke, wie still miteinander verabredet, manche, auch Fremde, ins Gespräch vertieft, einige fast heiter vergnügt. Wie eine Perlenschnur zieht sich die Kette der Menschen. Eine schwarze Schlange auf weißem Grund, Tausende Füße stapfen auf und ab, um warm zu bleiben. 13000 sollen nun da sein, 26 000 Hände suchen einander. Helfer mit weißen Armbinden verteilen Kerzen und weiße Rosen zum Anstecken. „Für mich ist es eine Genugtuung, wenn ich mich am Gedenken beteiligen und helfen kann“, sagt einer der Helfer. Er ist 79 Jahre alt, den 13.Februar 1945 hat er miterlebt, vom Stadtrand aus.

Zur selben Zeit versammeln sich am Postplatz Jugendliche zu einer Demonstration. „Schüler gegen Nazis“ steht auf dem großen Plakat, das sie vor sich her tragen. Eine kurze Ansprache, dann zieht der Tross zum Theaterplatz. Aus Lautsprechern schmettert einer der größten Hits der Band „Die Ärzte“. Er heißt „Schrei nach Liebe“ und es geht um einen Nazi – schlicht um ein „Arschloch“.

Polizeiwagen stehen bereit. Johanna Kindermann lässt sich davon nicht beunruhigen. Die 19-Jährige hat sich mit ihren Freundinnen am Postplatz verabredet. In Geschichte haben sie über den Zweiten Weltkrieg geredet. „Nun wollen wir ein Zeichen setzen“, sagt Lisa Rubin. Ihr Freundin Theresa Perner hat noch einen anderen Grund. Ihr Großvater lebte in Striesen. Damals war er ein kleiner Junge, heute ist er 72 Jahre alt. „Vor Angst hat er in der Bombennacht eingepullert“, sagt Theresa.

Zu viert ziehen die Mädchen zur Augustusbrücke. Ein weißer Lichtkegel durchbricht dort die hereinbrechende Dunkelheit. Regierungschef Stanislaw Tillich ist von Journalisten umringt. Er wirkt blass, angespannt, müde. „Ich hoffe, dass es heute friedlich bleibt“, sagt er. Als sein Tross mit Bodyguards weiterzieht, bleibt dahinter ein Mann im blauen Anorak und schräger Schirmmütze zurück, eher unscheinbar. Kurt Biedenkopf hat sich eingereiht in die Gruppe der Eingemummelten. „Ja, fragen Sie nur“, ermuntert er ein auswärtiges Fernsehteam. Was er denn angesichts der Zwickauer Terrorzelle sage und zu den Nazi-Aufmärschen in Sachsen. „Darüber möchte ich heute Abend nicht sprechen“, sagt Biedenkopf mit einem Lächeln. „Sondern ich möchte über die von der ganzen Bürgerschaft getragene Trauerstunde reden. Ich bin stolz auf die Dresdner.“ Dann dreht er sich um. „So, wo muss ich jetzt hin?“ Und verschwindet in der Dunkelheit.

Auf der Neustädter Seite ist unterdessen Prinzen-Sänger Sebastian Krumbiegel für das Bündnis „Dresden Nazifrei“ im Einsatz. „Wir wollen uns heute den Nazis friedlich entgegenstellen“, erklärt er einem älteren Ehepaar, das am Wochenende eigens zu einem Überlebendentreffen angereist ist. „Aber Nazis gab es doch nur bis 1945“, sagt die Frau. „Nein, es gibt neue Nazis. Und die haben absolut nichts gelernt“, erwidert Krumbiegel. Nach der Menschenkette steht er mit Megafon da und fordert die Dresdner auf, sich zu einer friedlichen Demonstration am Postplatz zu versammeln. Immer in Richtung Naziaufmarsch.

Zur Blockade fest entschlossen, hatten sich schon um 16 Uhr die ersten Demonstranten in der Nähe des World Trade Centers versammelt. Passanten wundern sich zunächst nur über die vielen Polizisten, die das ganze Viertel abgeriegelt haben und Autofahrer und manchen Fußgänger kontrollieren. Doch plötzlich kommen etwa dreihundert Menschen aus der Innenstadt angelaufen. Sie haben lilafarbene Luftballons dabei und machen sich ohne Umschweife auf der Kreuzung Ammon-/Freiberger Straße breit. Trommler sind dabei, bunt gekleidete Menschen, die fröhliche Stimmung verbreiten und den Rhythmus vorgeben. Viele tanzen mit, schon um sich warm zu halten. Es dauert ein paar Sekunden, als plötzlich auch Polizeieinheiten antraben und sich den Demonstranten gegenüberstellen. Schnell riegeln die Uniformierten auch die Bahnunterführung ab – dann stehen sie alle da, beäugen sich, aber nichts weiter passiert. Es wird heißer Tee und Suppe verteilt, ein DJ legt Musik auf.

Doch gegen 18.30 Uhr nimmt plötzlich die Bewegung der Demonstranten spürbar zu. Viele strömen von der Menschenkette aus der Altstadt hierher, wo die Nazis bald zu ihrem sogenannten Trauermarsch aufbrechen wollen. An verschiedenen Stellen rund um das World Trade Center bilden sich spontan Sitzblockaden, es gibt auch kleine Rangeleien mit der Polizei. „Es soll Versuche gegeben haben, aber zu einem Durchbruch kam es nicht“, sagte ein Polizeisprecher. Die Gegendemonstranten kommen den Nazis zwar sehr nahe, es wird ungeheuer laut, aber im Wesentlichen bleibt es friedlich. Es gibt kaum Festnahmen, keine Verletzten, kein Wasserwerfer wird eingesetzt. Überhaupt kein Vergleich zum vergangenen Jahr, als Polizisten angegriffen wurden und Barrikaden brannten. Nach und nach rücken dann doch immer mehr Nazis an. Schließlich sind es reichlich 1500, die am Abend durch die Straßen marschieren. Weniger als erwartet und kürzer als geplant. Aber den gespenstischen Marsch ganz zu verhindern, das ist in diesem Jahr nicht gelungen. Nach eineinhalb Stunden ist der Spuk vorbei, frustriert rücken die Nazis ab. Entlang der Route haben ihnen Plakate immerhin eine Alternative geboten. „Raus in die Zukunft“ war dort zu lesen: eine Werbung für das Aussteigerprogramm der Landesregierung.

Es berichten: Thilo Alexe, Annette Binninger, Denni Klein, Annchristin Kleppisch, Heinrich Löbbers, Juliane Richter, Oliver Reinhard, Thomas Schade, Alexander Schneider

Karl Nolle im Webseitentest
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