Karl Nolle, MdL

Spiegel 19/2017, 6.5.2017, 09.05.2017

Gerechtigkeit in Deutschland - Der Stolz ist weg

"Weiter so, uns geht's doch gut ......"
 
Ein Haus, ein Auto, ab und zu Urlaub - das war früher möglich, sagt der Soziologe Oliver Nachtwey. Heute gebe es den kollektiven Aufstieg nicht mehr, sondern immer mehr Abstiege. Was läuft schief, was muss geändert werden? Ein Interview von Matthias Bartsch und Horand Knaup

SPIEGEL: Herr Nachtwey, geht es in Deutschland gerecht zu?

Nachtwey: Nein. Wir sind absolut betrachtet die reichste Volkswirtschaft in Europa und haben einen Niedriglohnsektor, in dem knapp ein Viertel der Erwerbstätigen kaum genug verdient, um ihr Leben bestreiten zu können. Das ist nicht gerecht.

SPIEGEL: Hat die Politik etwas versäumt?

Nachtwey: Sie hat die Situation sogar mit herbeigeführt. Früher haben sich Bundesregierungen bemüht, Deutschland gerechter zu machen. Aber seit den frühen Achtzigerjahren ist man der Meinung, dass mehr Ungleichheit gut für die Wirtschaft sei. Dadurch hat sich der Anteil atypischer und prekärer Beschäftigungsverhältnisse deutlich erhöht; also der Jobs ohne Festanstellung, ohne Kündigungsschutz, ohne Mitbestimmung. Dazu gehören vor allem die Leiharbeit und die befristete Arbeit.

SPIEGEL: Es gab auch in den Sechziger- und Siebzigerjahren schon Abstiegsängste. Worin besteht die neue Qualität?

Nachtwey: Nehmen Sie die Autoindustrie: Früher hatten von der Montage bis zur Küche alle Beschäftigten den gleichen Branchentarifvertrag. Irgendwann wurden Bereiche wie die Küche, die Logistik oder der Wachschutz ausgegliedert. Die Beschäftigten wurden dann nicht mehr nach Metalltarif bezahlt, sondern man hat etwa für die Küche einen Dienstleister nach einem schlechteren Tarifvertrag oder einen gar nicht tarifgebundenen Anbieter genommen.

SPIEGEL: Früher war alles besser?

Nachtwey: Nicht alles, aber manches. Man konnte zumindest als Ungelernter in die Fabrik gehen und sich bis zum Vorarbeiter hocharbeiten - auch ohne Facharbeiterzeugnis oder Meisterbrief. Und man konnte damit ein Einkommen erzielen, mit dem man sich im Umland von Frankfurt ein Reihenhaus leisten und abbezahlen konnte. Ein Haus, ein Auto und ab und zu Urlaub - das war das Aufstiegsversprechen, und das war möglich. Aber diesen kollektiven Aufstieg des sozialen Untens gibt es nicht mehr, stattdessen gibt es vermehrt Abstiege, und die sind eine reale Bedrohung.

SPIEGEL: Die Zeiten ändern sich. Heute muss jeder wissen, dass man eine halbwegs gute Ausbildung braucht, um einen guten Job zu kriegen.

Nachtwey: So einfach ist es leider nicht. Wenn Sie in den Sechzigerjahren studiert haben, hatten Sie eine echte Chance auf dem Arbeitsmarkt. Wenn Sie heute studieren oder gut qualifiziert sind, ist es eher die notwendige Bedingung, um gut auf dem Arbeitsmarkt zu landen, aber nicht eine hinreichende. Alles ist mit viel mehr Unsicherheit verbunden.

SPIEGEL: Auch für besser Qualifizierte?

Nachtwey: Bildung kann auf Teilarbeitsmärkten den Wettbewerb verstärken. Beschäftigte mit geringerer Bildung werden dadurch noch stärker von der gesellschaftlichen Entwicklung abgekoppelt.

SPIEGEL: Aber es ist doch besser, Arbeit zu haben, als arbeitslos zu sein?

Nachtwey: Neulich war ich in einer dieser neuen, modernen Automobilfabriken. Die fest angestellten Stammbeschäftigen unterschieden sich von den Leiharbeitern auf den ersten Blick nur durch Details, etwa die andersfarbige Naht an den Arbeitsschuhen. Aber die Leiharbeiter verdienen 30 Prozent weniger. Nach drei Jahren bekommen sie das gleiche Gehalt wie das Werkspersonal, nur ohne Prämien. Dann gibt es im Werk noch eine blaue Linie, dahinter arbeiten die Leute von einem Logistiker zu einem viel niedrigeren Tarif. Und dann gibt es auf dem Gelände ein anderes Gebäude, da arbeiten wieder andere Leute von 14 verschiedenen Leiharbeitsfirmen. Dort gibt es nicht einmal einen Betriebsrat.

SPIEGEL: Die Hersteller können im globalen Wettbewerb aber nur Autos verkaufen, wenn sie günstig produzieren.

Nachtwey: Es geht den Unternehmensführern gar nicht primär um die Kosten. Es geht ihnen um atmende, flexible Unternehmen. Wenn ein Autokonzern heute einen neuen Lastwagen baut, kommen mehrere Tausend Ingenieure auf das Betriebsgelände, der Betriebsrat weiß von nichts. Der sieht nur, dass in dem Gebäude, das vorher leer stand, plötzlich nachts Lichter brennen und dass die Kantine voll ist. Diese Ingenieure verdienen teilweise besser als Werksingenieure. Aber wenn der Auftrag beendet ist, kriegen sie die Kündigung.

SPIEGEL: Gut ausgebildete Ingenieure werden schnell einen neuen Job finden.

Nachtwey: Sicher. Aber wenn die gleichen Leute mal 35 oder 40 Jahre alt sind, fragen sie den Betriebsrat, ob es nicht möglich wäre, eine feste Stelle zu bekommen. Sie haben geheiratet, ein Kind ist unterwegs, sie würden sich gern niederlassen und Wurzeln schlagen.

SPIEGEL: Deshalb weiten viele Unternehmen auch ihre Festanstellungen wieder aus.

Nachtwey: Aber längst nicht alle. Manche Geschäftsführungen sagen ganz offen: Wir brauchen die Leiharbeit, um die Komfortzone nicht zu sehr auszuweiten. Wenn der Festangestellte arbeitet und neben ihm der Leiharbeiter die gleiche Tätigkeit ausübt, sorgt das für Konkurrenz und Leistungssteigerung.

SPIEGEL: Welche Folgen hat dieser permanente Konkurrenzkampf?

Nachtwey: Die gut 20 Prozent Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor scheinen sich zu verfestigen. Vor allem im Dienstleistungsbereich sind viele betroffen. Früher war der Postbote Beamter, ein Repräsentant des Gemeinwesens, der auch noch Zeit für das Schwätzchen mit der Oma hatte. Wenn ich heute etwas bei Amazon bestelle, kommt der Bote zu mir in den vierten Stock raufgehetzt, weil er einen Euro pro Paket bekommt. Immer mehr Menschen arbeiten unter solchen Bedingungen. Dadurch entsteht eine neue Klasse, manche sprechen schon von einem Dienstleistungsproletariat.

SPIEGEL: Schlechte Jobs mit prekären Löhnen gab es früher auch schon.

Nachtwey: Ja, aber es gab einen gewissen Stolz auf die eigene Klasse und das Bewusstsein, dass man durch der eigenen Hände Arbeit eine gewisse Würde erfuhr. Heute ist in der Dienstleistungs-Unterklasse jeder für sich selbst verantwortlich: Der Stolz ist weg. Das Bewusstsein, einer Gemeinschaft hart arbeitender Menschen anzugehören, weicht zunehmend der Scham, es nicht geschafft zu haben.

SPIEGEL: Sie sprechen von einer "Abstiegsgesellschaft" in einem der reichsten Länder der Welt. Ist das nicht übertrieben?

Nachtwey: Keineswegs. Es hat viele Umwertungen im Diskurs um die Agenda 2010 gegeben. Da hat man gesagt, die Leute, die von Sozialleistungen abhängig sind, wollen gar nicht arbeiten, die wollen lieber auf der Couch liegen. Viele Angehörige der Mittelklasse haben daraufhin angefangen, sich stark nach unten abzugrenzen, um den eigenen Status zu bewahren.

SPIEGEL: Wie grenzt man sich ab?

Nachtwey: Man achtet beispielsweise darauf, dass in den Kindergärten im Viertel nicht zu viele Migranten sind. Selbst Linksliberale wechseln im Zweifel den Stadtteil, um Zugang zu den besten Schulen zu bekommen.

SPIEGEL: Erklärt das die plötzliche Aufmerksamkeit für Martin Schulz?

Nachtwey: Es gibt jedenfalls ein enormes Unbehagen gegenüber dieser wachsenden Ungleichheit. Die Agenda 2010 hat ihren Teil dazu beigetragen. Die SPD hat zu lange geglaubt, vermeintlich beliebte Kanzlerkandidaten würden für einen Wahlsieg ausreichen. Nun merkt man, dass in den USA der demokratische Kandidat Bernie Sanders viele Menschen mit einem Programm begeistert hat, das er "demokratischen Sozialismus" nannte. Ich glaube, er hätte Donald Trump klar besiegt.

SPIEGEL: Hat Schulz eine Chance gegen Angela Merkel?

Nachtwey: Er macht vieles besser als frühere SPD-Kandidaten, deren erste Botschaft war: Weiter so, uns geht's doch gut. Und er will Fehler der Agenda korrigieren.

Sein Problem ist: Man weiß bisher nicht genau, was sein Projekt ist.

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Oliver Nachtwey, 41, ist Wissenschaftler am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main. Am 1. August tritt er die Professur für Sozialstrukturanalyse an der Universität Basel an. Er hat den Bestseller "Die Abstiegsgesellschaft" verfasst.

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