Karl Nolle, MdL

DER SPIEGEL 32/2007, Seite 36, 05.08.2007

SOZIALDEMOKRATEN: Zahlen aus der Hexenküche

Der Meinungsforscher Manfred Güllner ist neuer Hauptfeind der SPD-Spitze. Mit seinen Umfragedaten bescheinigt er der Partei den Niedergang - und versetzt die Führung in Aufregung.
 
Der Chef des Berliner Meinungsforschungsinstituts Forsa, Manfred Güllner, 65, muss nur die Namen von aktiven und gewesenen Sozialdemokraten hören, schon giftet er los.

Franz Müntefering? Der sei "eine Art stalinistischer Apparatschik", sagt er. Björn Engholm? "Ein begnadeter Nichtsnutz." Rudolf Scharping? "Der war schon als Ministerpräsident überfordert." Und Kurt Beck? "Bei dem bleiben die Wähler zu Hause."

Warum, hat Güllner erst kürzlich im Magazin der "Süddeutschen Zeitung" erklärt. Beck komme aus kleinen Verhältnissen, aus einem begrenzten Milieu und könne vielleicht deshalb die Wirklichkeit außerhalb seiner heilen Welt weder richtig einschätzen noch bewältigen, schrieb Güllner da.

Eigentlich gehört es nicht zum Berufsbild eines Meinungsforschers, Politiker zu beschimpfen. Doch Güllner führt einen Feldzug gegen die Sozialdemokraten und ihr Spitzenpersonal. Man fragt sich, warum?

Für Güllner ist die SPD die reinste Versager-Truppe. Und er sieht die Mehrheit der Deutschen auf seiner Seite. Er kann das belegen mit Zahlen aus seinem eigenen Institut. Tag für Tag werden sie per Telefon erhoben.

Die Umfragewerte der Sozialdemokraten seien auf Talfahrt, sagt Güllner und zeichnet mit der Hand eine steil abfallende Kurve in die Luft. Nur rund 25 Prozent der Deutschen würden jetzt noch SPD wählen.

In Interviews, im Fernsehen, in Aufsätzen verbreitet Güllner seine Botschaft. Vor allem aber veröffentlicht er seine Umfragezahlen - Woche für Woche im "Stern" und bei RTL. Die Forsa-Zahlen für die SPD sind meist die schlechtesten auf dem Markt. Schlechter als bei den anderen Instituten. Das macht sie interessant. Fast alle anderen Medien nehmen sie immer wieder gern auf.

Die Schlagzeilen für die Genossen sind entsprechend mies: "Die SPD kommt nicht aus dem Tief" ("Financial Times Deutschland"), "Union hängt SPD ab" ("Bild"-Zeitung), "Becks Truppe taumelt" ("Frankfurter Rundschau").

Brille, graue Haare, zerknautschtes Sakko, Güllner wirkt wie ein harmloser älterer Herr. Aber seine Kommentare sind gnadenlos. Die ganze SPD sei "ausgezehrt", sagt er, ihr personelles Angebot werde von den Bürgern auf allen Ebenen als "eine Zumutung" empfunden. Und überhaupt: "Die Partei hat ihre regionale Verankerung und das Vertrauen vor Ort weitgehend verloren."

Viele Sozialdemokraten sehen in Güllner einen der Hauptverantwortlichen für ihre derzeitige Misere. Sie werfen ihm vor, die SPD schlechtzureden und schlechtzurechnen. Seine Zahlen halten sie für falsch oder zumindest manipuliert.

"Güllner versucht seit Monaten, den Sozialdemokraten mit Umfragewerten zu schaden", sagt Niedersachsens SPD-Chef Garrelt Duin. "Wir lassen uns Kurt Beck nicht forsauen", schimpft SPD-Präsidiumsmitglied Ludwig Stiegler. Und Generalsekretär Hubertus Heil befindet kühl, Güllners Einschätzungen seien "menschlich und politisch zutiefst abstoßend".

Der so Gescholtene kontert die Angriffe mit einem Versprechen: "Meine Zahlen sind keine Erfindungen von mir", sagt er. "Das ist die Realität. Die SPD verdrängt die Wirklichkeit."

Der Kampf Güllner versus SPD hat bizarre Züge. Denn obwohl die Genossen den Forsa-Chef verteufeln, wissen sie eigentlich, dass er oft recht hat. Seine Analysen werden von vielen Sozialdemokraten geteilt. Sie sind ja nicht blind, sondern sehen genau, was los ist. Sie sehen, dass die Mitglieder in Scharen austreten, wegsterben oder zur Linken wechseln. Dass in den Ortsvereinen kaum noch junge Leute sitzen. Dass Parteichef Kurt Beck ziemlich bräsig-provinziell wirkt.

Natürlich kennen die Genossen auch die Werte der anderen Umfrageinstitute wie Infratest dimap oder TNS Emnid. Sie sind vielleicht nicht ganz so schlecht wie die von Güllner. Aber viel besser auch nicht. Meist dümpelt die SPD um die 30-Prozent-Marke. Die Union liegt weit davor bei rund 37 Prozent.

In der Partei mag kaum jemand diese Krise offen thematisieren. Es ist wie ein dunkles Familiengeheimnis, über das man nicht spricht. Nach den heftigen Kämpfen der Schröder-Zeit sehnen sich die Genossen nach Ruhe und Harmonie.

Güllner will diesen Widerspruch aufdecken. Er spitzt zu. Er vermischt seine persönlichen Ansichten über die SPD mit den Zahlen, die er erhebt. Daraus wird ein Cocktail, der seriös und unabhängig aussieht und doch voller Meinung steckt.

Typisch für den Kampf zwischen Güllner und den Sozialdemokraten ist der Streit um einen Beitrag in der SPD-Zeitschrift "Berliner Republik". Dort schrieb Güllner, nach Umfragen sei der SPD-Kandidat für die Landtagswahl in Niedersachsen, Wolfgang Jüttner, unbeliebter als CDU-Ministerpräsident Christian Wulff. Die Sozialdemokraten sollten besser keine Plakate mit Jüttners Foto im Wahlkampf einsetzen, weil dies Wähler verschrecken könnte.

Das löste eine Welle der Empörung in der SPD aus. Generalsekretär Heil sah sich gezwungen, der "Berliner Republik" "Konsequenzen" anzudrohen. Güllner wurde der Manipulation bezichtigt. Doch die Aufregung war künstlich. Insgeheim haben wohl etliche Genossen aus der SPD-Führung Güllner zugestimmt. Jüttner halten viele für einen Zählkandidaten, der nur aufgestellt wurde, weil Amtsinhaber Wulff bei der Wahl 2008 als unbesiegbar gilt.

Natürlich macht Güllner mit derlei Aktionen auch ein Geschäft. Jedes Mal, wenn der Name Forsa in der Zeitung steht, ist das eine kostenlose Werbung für ihn. Doch sein Kampf hat auch etwas mit enttäuschter Liebe zur SPD zu tun. Seit 1964 ist er selbst Mitglied. Den sozialdemokratischen Bildungsreformen in den siebziger Jahren verdankt der Sohn eines Schmieds aus dem Bergischen Land, dass er Soziologie studieren konnte. Parteikontakte beförderten ihn in das Umfrageinstitut Infas, und dank der SPD wurde er 1978 Leiter des Statistischen Amts in Köln. 1984 gründete er sein eigenes Umfrageinstitut Forsa. "Ich würde niemals aus der SPD austreten", sagt Güllner.

Er ist ein verzweifeltes Mitglied, seit Jahren. Er habe bereits in den Siebzigern und Achtzigern vor dem Niedergang gewarnt, als die Partei in den großen Städten massiv Stimmen verlor. Schon damals habe niemand in der SPD-Spitze wirklich etwas davon wissen wollen, sagt er beleidigt.

Güllner will, dass sich die SPD wieder mehr um die Kommunalpolitik kümmert. Dort müsse die Partei begeistern, um wieder von unten wachsen zu können. Niemand scheint auf ihn zu hören. Seine Gegner sind die "ignoranten Funktionärskader", die an den Wünschen der Basis vorbei regierten und ihn nur aus einem schlichten Grund bekämpften: "Ich gebe mit den Umfragen den Menschen eine Stimme."

Nur einen wirklichen Helden gibt es für Güllner bei der SPD: Das ist Gerhard Schröder. Mit ihm ist er seit Jahrzehnten befreundet. Er beriet Schröder während dessen Kanzlerschaft und in den Wahlkämpfen. "Schröder hat durch seine Bindekraft den Niedergang für einige Jahre übertüncht", sagt er. Seit dessen Abwahl setze sich der Abwärtstrend der SPD fort.

Im Berliner Willy-Brandt-Haus sieht man das naturgemäß anders. Dort wirft man Güllner hinter vorgehaltener Hand vor, er sei beleidigt, weil er nach der Abwahl seines Kumpels Schröder Regierungsaufträge verloren habe.

Güllner weist das zurück. Forsa habe während der rot-grünen Koalition 600 000 Euro pro Jahr für Umfragen vom Bundespresseamt erhalten. Danach sei der Betrag auf "weniger als die Hälfte" gekürzt worden. Doch dies habe mit seiner jetzigen Arbeit nichts zu tun.

Ein anderer Vorwurf aus der SPD lautet, Güllner arbeite unseriös. Zum Beispiel, weil er immer wieder Umfragen unter vermeintlichen Parteimitgliedern mache. Jüngst kam dabei heraus: 56 Prozent der SPD-Mitglieder glauben nicht daran, dass Beck der richtige Mann sei, um die Partei aus ihrem Tief herauszuführen. Eine schreckliche Zahl für den Parteichef und seine Freunde.

Woher will Güllner wissen, dass die Mitglieder, die interviewt wurden, wirklich repräsentativ sind, fragen sie seither in der SPD-Zentrale? Dafür hätte die Partei Forsa die Daten über ihre Mitglieder geben müssen. Und das habe man selbstverständlich nicht getan. Güllner entgegnet, er erhebe bei seinen Umfragen auch die Parteimitgliedschaft. So seien Umfragen unter Sozialdemokraten möglich.

Unterstützt werden die Güllner-Gegner - wohl nicht ganz uneigennützig - von Konkurrenten des Forsa-Chefs bei anderen Umfrageinstituten. Dort gilt der Mann als Außenseiter. Sie meiden ihn und wundern sich über seine Daten. "Die Hexenküche des Herrn Güllner erschließt sich nicht für Außenstehende", sagt der Chef des Meinungsforschungsinstituts TNS Emnid, Klaus-Peter Schöppner.

Für Güllner sind dies alles üble Nachreden. Er will nicht beidrehen, sondern weitermachen. Auch im Interesse der SPD.

Stolz berichtet er, dass er neulich einen Aufsatz mit elf Thesen geschrieben habe. Ganz so wie einst Karl Marx über den Philosophen Ludwig Feuerbach. Statt über Umfragezahlen zu streiten, solle sich die SPD lieber die elfte Marxsche These zu Herzen nehmen, sagt Güllner.

Sie lautet: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern."
ROLAND NELLES

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