Karl Nolle, MdL

Dresden, Plenarsaal im Sächsischen Landtag, 15.09.2000

Zur wirtschaftlichen Situation in der Lausitz

Rede zum Bankrott von CDU-Wirtschafts- und Sozialpolitik
 
"Wer vom Ausbluten der Lausitz spricht hat ein Rad ab", sagte Staatssekretär Vehse am 1. Sep. diesen Jahres gegenüber der Sächsischen Zeitung. Das war seine Reaktion auf meine Pressemitteilung vom 30.August d.J. zu Vermittlungen von Arbeitslosen des Arbeitsamtes Bautzen nach Bayern mit Hilfe von Ausreiseprämien von DM 5.000 pro Kopf.

Jawohl , Herr Vehse, ich spreche vom Ausbluten der Lausitz. Und ich bedanke mich für Ihre Freundlichkeit, ich hätte ein Rad ab.

Allerdings, bei der Frage, ob diese unzivilisierte Bemerkung positiver ist, als der kürzlich dokumentierte Zwischenruf von Herrn Leroff, "Herr Nolle, wenn Sie halb soviel Verstand hätten, wie Bauch..." - Da komme ich wirklich ins Grübeln.

Übrigens meine Damen und Herren, mein Brief an Minister Schommer, "ob es inzwischen Politik der Staatsregierung sei, die Menschen aus der Lausitz nach Möglichkeit wegzuschicken", ist bis heute nicht beantwortet worden.
Der Exodus der Menschen aus den vergessenen Regionen, hier die Lausitz, zeigt das heutige Dilemma von Wirtschafts- und Sozialpolitik auf, in das die sächsische Politik als Ergebnis bewußten politischen Handels in Bund und Land seit der Wende geraten ist. Wer hat eigentlich in den letzten 10 Jahren regiert beim Dr. Kohl und beim Prof. Biedenkopf ?

Die 66.000 Arbeitslosen, allein beim Bautzner Arbeitsamt, sollen die eigentlich alle abhauen nach drüben, damit die Statistik sauber bleibt, weil der Lausitzbeauftragte der Staatsregierung schulterzuckend leider nur ein paar Tante Emmaläden in die Region locken konnte?

Nicht, daß ich mißverstanden werde, wir müssen uns über jeden freuen, dem individuell nach Bayern verholfen wird, und der dann mit Prämie von 5.000 Mark zur AVON-Beraterin ausgebildet wird, wie zu lesen war. Da freuen sich die arbeitslosen Frauen in der Lausitz, wenn mit ihnen künftig mundartgerecht Haustürgeschäfte gemacht werden.

Herr Vehse und Herr Schommer, vielleicht sind die von Ihnen propagierten Niedriglöhne als Standortvorteil der Lausitz noch zu hoch? Vielleicht sind Akkordlöhne von 6,50 die Stunde noch zu hoch? Der Versuchsballon für 8 Zloty nach Polen, also für 4,25 die Stunde, war kein böser Traum, wie wir lesen konnten.

Die Situation in der Lausitz aber auch in Teilen des Erzgebirges, des Vogtlands und im Süd- und Ostraum Leipzig ist eine einzige Bankrotterklärung christdemokratischer Wirtschafts- und Sozialpolitik.

Diejenigen, die Füße zum Laufen haben, die flexibel, mutig, risikobereit und jung sind, gehen weg. Mit ihnen gehen auch die potentiellen Jungunternehmer und zukünftige Selbstständige.

Was für kurze Zeit nach der Wende mal ein Standortvorteil für den Osten sein sollte, verkehrt sich heute eindeutig in das blanke Gegenteil. Merkt das keiner ?

Das Ausbluten eines Teils unserer sächsischen Heimat ist ein gefährliches Wachstumhindernis für den Aufholprozess mit dem Westen.

Die Unternehmen haben nach der Wende die erfahrenen, älteren Arbeitnehmer mit staatlicher Hilfe in den Vorruhestand geschickt und keine Jüngeren eingestellt. Jetzt fehlt ihnen die Erfahrung der Alten und der Schwung der Jungen. Viele der Beschäftigten werden in den nächsten 10 bis 15 Jahren gleichzeitig in Rente gehen. Was passiert dann? Schon heute fehlen in vielen Betrieben Fachkräfte.

Stagnierende Arbeitslosenzahlen und zunehmendes Fehlen von gut ausgebildeten Jungen und die Falle schnappt zu.

Da hilft es wenig, wenn sich die 66.000 Arbeitslosen beim Arbeitsamt Bautzen erinnern, daß sie alle früher schon mal Arbeit gehabt haben.

Mit der Wende haben die hoffenden Menschen in der Lausitz die politische Verantwortung für ihr Wohlergehen in die Hände der Christdemokraten gelegt.

Diese "patentierten Christen", wie es einmal Herbert Wehner ausdrückte, haben ihnen im Einigungstaumel, und noch 1993, blühende Landschaften versprochen. Die 400.000 Tausend Arbeitslosen in Sachsen, davon 66.000 allein aus Bautzen, gehören nicht zu den Gewinnern der Einheit, sie alle haben zahllose Enttäuschungen hinter sich, ihre Lebensperspektiven haben sich drastisch vermindert.

Natürlich, meine Damen und Herren, im Durchschnitt verdienen die Sachsen schon ganz gut, im Durchschnitt ist die wirtschaftliche Entwicklung in Sachsen erfreulich positiv. Der Durchschnitt der Statistik sagt aber nichts über die konkrete Misere in den von Ihnen, meine Damen und Herren, vergessenen Regionen, aus.

Niemand hat etwas davon, wenn man im Land durchschnittlich satt wird.
Man kann nur konkret satt werden.

Die Schere zwischen den, zugegeben, reichen Metropolen Leipzig, Dresden, Chemnitz und den armen Regionen im Land geht nicht zusammen. Löhne unter Sozialhilfeniveau sind nicht auskömmlich, das wird eben von den Durchschnittsstatistiken vernebelt.

Wann, meine Damen und Herren von der CDU erklären sie ihren Wählern in der Lausitz, daß sie überhaupt nicht die Instrumente und Möglichkeiten besitzen, um die notwendigen wirtschaftlichen und sozialen Prozesse zu steuern, die den Menschen ein konkretes - nicht durchschnittliches - erträgliches Leben sichert, daß das mit der sozialen Marktwirtschaft nicht so gemeint war und nun nur noch die Marktwirtschaft übrigbleibt mit Herrn Schommers Devise: "der Tüchtige braucht keine Hilfe, gute Unternehmen brauchen keine Fördermittel", Herr Nolle.

Wann hören wir mal von Ihnen, Herr Schommer, daß auch ihre Fehleinschätzungen nach der Wende, einfach Spitze waren, daß die Radikalität, mit der Sie den Niedergang der Arbeitsplätze der alten DDR herbeigewünscht haben, einfach Super war, daß die Liberalisierung des Strommarktes, die den unnötig vorzeitigen Niedergang der Braunkohleverstromung im Osten verstärkt hat, einfach toll war.

Ich bin mir sicher, Meine Damen und Herren von der CDU, in Westdeutschland hätten sie nicht so zahllose Versuchskaninchen gefunden, denen sie diese Entwicklung zugemutet hätten, das hätten sie dort nicht gewagt.

Die Beseitigung der regionalen Arbeitslosigkeit in unseren armen Regionen in Sachsen ist der Testfall für die Leistungsfähigkeit und die Wahrhaftigkeit der Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik. Im Bewußtsein der betroffenen Bürger ist das die Hürde für ihre Aussöhnung mit den produzierten Vorurteilen oder Urteilen über den Kapitalismus der früheren Lehrbücher.

Diese bestätigen sich in Kopfprämien damit die Menschen weggehen und Abrißprämien für Wohnraum, den sie nicht mehr brauchen.

Wenn sich die Politik in diesem Lande aufraffen würde, diesem Grundübel: Nämlich, Arbeits- und Perspektivlosigkeit an der Armutsgrenze in den vergessenen Regionen, ernsthaft zu Leibe zu rücken und den Menschen vorsichtig reinen Wein einschenken würde, über den Umbau des Sozialstaates, die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, die Eigenverantwortung für die materielle Zukunftssicherung und sie einbeziehen würde in eine aktive solidarische Bürgergesellschaft, das wäre die Wende. Ohne Geduld und den festen Willen uns und anderen die Wahrheit sagen zu müssen, wird es nicht gehen. Als machtbesitzende und machtbesessene Mehrheitsfraktion haben sie die Verantwortung, meine Damen und Herren von der CDU.

Bringen sie endlich genug Kompetenzzentren und Infrastruktur in die schwachen Regionen, entwickeln Sie den Hochschulstandort Zittau/Görlitz zu einem Zentrum für Informatik, IT und neue Medien. Organisieren Sie die länderübergreifende Zusammenarbeit der Hochschulen in Senftenberg und Zittau/Görlitz, entwickeln sie auf der Basis der seit 5 Jahren überfälligen regionalen Strukturentwick-lungspläne für die Lausitz eine integrale, regionale Wirtschaftsstrukturpolitik für mittelständische Unternehmen und eine aktive Arbeitsmarktpolitik, wo die Menschen in ihrer Heimat bleiben können.

Sorgen Sie für geöffnete Theater, Konzertsääle, Museen, Galerien und Bibliotheken in der Lausitz. Die Menschen wollen mehr als nur in blühenden Landschaften spazieren gehen.

Machen Sie einen Punkt hinter die Leuchturmpolitik in den Ballungszentren.

Jeder Mensch der weggeht, ist ein Kunde weniger für den Friseur, für den Lebendmittelladen, für den Textil- und Schuhladen, für den Vermieter, für die Stadtwerke und für die Gemeinde.

Dazu passen gut Dumpinglöhne und Sozialdumping in den armen Regionen, auch da ist Sachsen Spitze.

Wer was kaufen soll, muß Geld in der Tasche haben, sonst ist die Pleite vorprogrammiert und es wird aus ihrer behaupteten Gemeinnützigkeit, meine Damen und Herren von der CDU, einfach nur gemeiner Eigennutz oder eine eigennützige Gemeinheit.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

Karl Nolle im Webseitentest
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