Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, 21.12.2011

Braun blühende Landschaften

"Die Drahtzieher und führenden Köpfe des neuen Faschismus in der DDR haben hier ,überwintert‘ oder sind hier großgeworden."
 
Andreas Neumann-Nochten ist ein friedliebender Mensch geblieben. Aber ihm "platzt der Kragen", wenn er noch heute immer wieder hören muss, dass es in der DDR keinen Antisemitismus und Rechtsextremismus gegeben haben soll. Er hat ihn ja am eigenem Leib erlebt.

Etwas verloren wirkt er, der kleine siebenarmige Messingleuchter. Matt schimmernd steht er in der Fensternische eines Görlitzer Altstadthauses. Andreas Neumann-Nochten bemerkt den Blick des Besuchers und ahnt die Frage dahinter. „Ich habe meine ersten Lebensjahre im Heim verbracht, bin christlich erzogen worden und eigentlich evangelischer Theologe“, sagt er ins Dämmerlicht seines Arbeitszimmers hinein, das voller Bücher ist und Gemälde und Zeichnungen. Schon als Kind konnte der 51-Jährige auffällig gut mit Buntstiften umgehen, heute arbeitet er als Maler, Grafiker und Karikaturist. Doch die Farben seiner frühesten Erinnerungen sind verblichen. „Meine leibliche Mutter kenne ich nicht. Dass sie Jüdin war, habe ich erst 1978 erfahren.“ Neumann-Nochten macht eine abwägende Handbewegung. Als wolle er dieser Tatsache ein wenig Gewicht nehmen, sie zum Leuchter in den Hintergrund schieben.

Das war nicht immer so. In den Achtzigern, als Student in Naumburg, zierte seinen Hinterkopf eine jüdische Kipa. „Aus Protest gegen diesen Bevormundungsstaat, der sich antifaschistisch nannte und so tat, als gäbe es keinen Antisemitismus.“ Längst hatte er das Gegenteil erfahren. Erstmals als Bausoldat, der regelmäßigen Kontakt zu Offizieren hatte, um sie zu porträtieren. „Sobald die unter sich waren, herrschte die reinste Wehrmachtsstimmung“, erinnert sich Neumann-Nochten. „Judenwitze waren an der Tagesordnung. Kein Wunder in einem Staat, der andauernd für die Araber und gegen Israel polemisiert.“ Für die Kipa gab es indes einen weiteren Grund: Ständig wurden dem Friedensaktivisten die „Schwerter zu Pflugscharen“-Aufnäher von der Jacke gerissen. Ans Käppi aber, so dachte er, würde sich niemand wagen. So war es auch. Bis zum 13. April 1988.

Im Jahr 1988 wurde Andreas Neumann-Nochten von Nazis verprügelt, weil er eine Kipa trug. Das geschah in Naumburg und war damals keine Einzelfall. Das Innenministerium der DDR schätzte das rechte Milieu auf 15.000 Personen.

Kurz nach 22 Uhr lief Andreas Neumann-Nochten durch eine dunkle Naumburger Straße und einer Gruppe Skinheads direkt in die Arme. Erst trafen ihn Schimpfworte wie „Judensau“. Dann Schläge. Schließlich, so schrieb er kurz darauf in sein Tagebuch, „sehe ich den Fuß auf mein Gesicht zurasen und spüre doch allenfalls einen dumpfen Druck im Nacken. Eine Mädchenstimme sagt: ‚Hör auf, du bringst ihn ja um‘. Dann ist Stille.“ Stunden später wurde der Bewusstlose gefunden. Erst nach zwei Wochen konnte er das Krankenhaus verlassen.

Auch dieses Kapitel seines Lebens hängt der Wahl-Görlitzer ungern an die große Glocke. Dass er jetzt noch einmal davon erzählt, es liegt am Ärger. Dem Ärger darüber, dass „viele immer noch so tun, als habe es in der DDR keinen Rechtsextremismus gegeben“, schimpft Neumann-Nochten und greift zur nächsten Zigarette. Durch seine schmale Gestalt geht ein Ruck, die Augen hinter der Brille blitzen auf. „Einerseits kann ich verstehen, wenn sich viele dagegen wehren, dass der Osten grad mal wieder als Nazihort dargestellt wird.“

Grad wieder, das heißt: noch während der Aufregung um die Zwickauer Terror-Zelle „Nationalsozialistischer Untergrund“ und deren Taten. Aber auch: kurz nachdem bekannt wurde, dass Sachsen bevorzugter Lebens- und Tummelplatz für Rechte ist, Dresden mit 20000 seit 2007 aufmarschierten Neonazis bundesweit an der Spitze liegt – und Görlitz mit 4400 auf Platz fünf.

„Aber wenn ich jetzt wieder überall höre, das sei alles erst nach der Wende vom Westen ’rübergekommen, platzt mir der Kragen“, sagt Neumann-Nochten. „Das hat‘s vor 1989 sehr wohl gegeben. Überall.“ Das Problem war nur: Kaum etwas davon drang an die Öffentlichkeit. Weil nicht wahr sein konnte, was nicht wahr sein durfte.

Kleine Teile der Wahrheit standen immer mal wieder in Zeitungen. Etwa, dass im November 1987 in Oranienburg Rechtsextremisten festgenommen wurden, die ihre Umgebung monatelang terrorisiert hatten. Dass im Dezember 1987 Neonazis ein Punkkonzert in der Berliner Zionskirche stürmten, „Sieg Heil!“ riefen und viele Gäste verprügelten. Dass im März 1988 Jugendliche auf dem Judenfriedhof in der Schönhauser Allee 200 Grabsteine mit antisemitischen Parolen schändeten und umwarfen. Dass zwei Monate später in Halle fünf junge Männer einen Mosambikaner zusammenschlugen und das „Nigger-Klatschen“ nannten. Dass im Mai 1988 zwischen Riesa und Elsterwerda Rechte einen Afrikaner aus dem fahrenden Zug warfen...

Nur vereinzelt wurde das Problem umfassender betrachtet. Wie in der Zeitschrift „Sport und Technik“ vom Juni 1988. Oder in „Das Magazin“ vom August desselben Jahres. Die Artikel waren durchaus gesellschaftskritisch. Doch verorteten sie die Ursachen allen Übels nicht in der DDR. „Keine Grenzsicherungsanlage riegelt uns vor Einflüssen hermetisch ab. Auch nicht vor Mode- und Kulturimporten“, so das Magazin. „Nicht nur für die Angeklagten in Oranienburg gaben westliche Medien den Takt an.“

Ein Autor aber legte die Scheuklappen ab und grub im eigenen Land nach den Wurzeln. „Die Drahtzieher und führenden Köpfe des neuen Faschismus in der DDR“, schrieb 1988 der Filmregisseur und Bürgerrechtler Konrad Weiß, „sind nicht im Westen zu suchen, sondern haben hier ,überwintert‘ oder sind hier groß geworden. Sie sind das Produkt unserer Gesellschaft.“ Unter anderem, weil der Nationalsozialismus niemals auch selbstkritisch aufgearbeitet worden sei. Und „die grundsätzliche Bejahung von Gewalt und der Mangel an demokratischer Kultur den Propagandisten der neuen faschistischen Bewegung ein leicht zu beackerndes Feld bereitet haben“.

Anfang 1989 erschien der Text „Die neue alte Gefahr“ in der Untergrundzeitschrift „Kontext“. Im Ausland wurde er massenhaft nachgedruckt, auch in Polen. Viele Leser wunderten sich, woher Weiß derart umfangreiche und detaillierte Kenntnisse über die Szene hatte. Kaum jemand ahnte, dass die meisten aus erster Hand stammten – dem Innenministerium der DDR. Genauer: von Bernd Wagner und seinen Kollegen. Der heutige Vorsitzende der Berliner Gesellschaft Demokratische Kultur war damals Oberleutnant der Kriminalpolizei und leitete seit Januar 1988 die „Arbeitsgruppe Skinhead“. Alles, was man über die Szene herausfand, landete auf seinem Schreibtisch. „Ab 1985 waren wir über das Problem informiert“, sagt Wagner. „Auch Stasi-IM waren auf das Milieu angesetzt. Niemand bei uns hat bezweifelt, dass es hausgemacht war. Wie übrigens in allen Ostblock-Staaten.“

Über 1000 Namen gewalttätiger Nazis, im Amtsjargon „Mehrfach rückfälliges Militanzpotenzial“, wurden dokumentiert, zudem 6000 Rechtsextreme in Kameradschaften und ähnlichen Gruppen. Insgesamt haben Wagner und seine Kollegen das Milieu auf etwa 15000 beziffert (Die Verfassungsschutzberichte der ostdeutschen Länder nennen 2010 ein „rechtsextremistisches Potenzial“ von insgesamt 9320 Personen. Inklusive Westberlin)

In Berlin und Leipzig untersuchten zwei Soziologenteams die neue alte Gefahr von Rechts. Was sie herausfanden, nennt Wagner „ein typisches Phänomen in versiegelten Gesellschaften“. Dass die DDR in eine ernsthafte Krise rutschte, war Mitte der Achtziger für viele Bürger unübersehbar. Doch Reformen fanden nicht statt, „und solche Stagnationsprozesse befördern extremistische Anschauungen“. Neben demokratischen Oppositionsgruppen formierten sich zwei Strömungen, die radikal-autoritäre Wege aus der Krise einschlagen wollten. „Das Ziel der einen war eine stalinistische Lösung“, erinnert sich der Diplom-Kriminologe. „Die Vision der anderen war der Rückgriff aufs Dritte Reich.“ Ähnlich wie heute rekrutierten sich die Rechtsextremisten zumeist nicht aus der – damals allerdings offiziell inexistenten – Unterschicht. „Ihr Kern kam aus der jungen Arbeiterklasse, fleißig, diszipliniert, engagiert und mit besten Sozialprognosen.“

Doch immer wieder warfen Staatssicherheit und SED-Obere den Ermittlern und Soziologen Knüppel zwischen die Beine. Im Juni 1988 war endgültig Schluss. Das Politbüro starrte auf die gewonnenen Erkenntnisse wie das Kaninchen auf die Schlange. „Nichts durfte an die Öffentlichkeit dringen“, sagt Bernd Wagner. „Ein derartiges faschistisches Potenzial im antifaschistischen Staat; das hätte die ideologischen Grundfesten der DDR einstürzen lassen. Wider besseres Wissen schob man weiter alles auf den Westen. Ein großer Fehler, der bis heute nachwirkt.“

Gleichwohl sorgten Wagner und einige Kollegen dafür, dass all die Arbeit, dass all ihre Mühe nicht vergebens bleiben musste. Über eine Mittelsperson bekam Konrad Weiß, was er für seinen Artikel „Die neue alte Gefahr“ brauchte. „Wir wollten, dass das Problem öffentlich wird“, sagt Wagner. „Antifaschismus war für uns eine menschliche Wertefrage, keine Klassenfrage.“

Einen Monat nach dem Aus für Bernd Wagners „Arbeitsgemeinschaft Skinhead“ erfuhr auch Andreas Neumann-Nochten in Naumburg Ernüchterndes: „Obwohl die Polizei meinen Fall anfangs unbedingt aufklären wollte, stieß ich jetzt auf taube Ohren.“ Erst nach hartnäckigen Fragen bekam er Antwort: „Die Sache war auf einmal eine ,Rangelei unter Freunden‘. Der Täter musste sich nur vor der Konfliktkommission seines Betriebes verantworten.“

Zwei Jahre später, nach der Wende, konnte Naumann-Nochten seinen Peiniger Matthias E. zur Rede stellen. „Über die Prügelei hat er kaum etwas erzählt. Aber immerhin, dass er und die anderen Jungs seiner Nazi-Kameradschaft damals ,mit den ganzen Lügen des Kommunismus aufräumen‘ wollten.“ Das war noch nicht alles. Andreas Neumann-Nochten hörte von Matthias E. zudem: Gegen dessen Nazitruppe waren bereits vorher Ermittlungen eingeleitet worden. Da ein Kamerad aber Sohn eines SED-Funktionärs gewesen sei, habe man ihnen Straffreiheit zugesichert, wenn sie ein paar Störenfriede aus der kirchlichen Friedensbewegung „aufmischten“. Störenfriede, wie Andreas Neumann-Nochten damals einer war. Zum Abschied sagte ihm Matthias E. noch, „dass er jetzt in einer Art Wehrsportgruppe sei, zusammen mit anderen Mitgliedern seiner Kameradschaft und Kumpels aus der Gesellschaft für Sport und Technik und der ehemaligen FDJ-Kreisleitung“. Es wundert nicht, dass die ausgezeichnet organisierten Führungskader der bundesdeutschen Neonazis ihren Augen misstrauten, als sie zur „Missionierung“ in den Osten kamen und hier bereits braun blühende Landschaften vorfanden.

Mit der Einheit bekam das Problem eine neue Qualität. Als Bernd Wagner seine Erkenntnisse den bundesdeutschen Kollegen präsentierte, konnte er die Reaktion kaum fassen. „Die haben uns einfach nicht geglaubt. Auch die wollten die wirklichen Dimensionen des Rechtsextremismus im Osten nicht wahrhaben.“ Noch im Sommer 2000 irrglaubte Ministerpräsident Biedenkopf in der Sächsischen Zeitung, seine Sachsen seien „völlig immun gegenüber den rechtsradikalen Versuchungen“. So konnten west- und ostdeutsche Kameraden über Jahre hinweg nahezu ungestört zusammenwachsen, festere Strukturen aufbauen, die braunen Landschaften weiter beackern. Mit Erfolg, wie die jüngsten Ereignisse und Erkenntnisse bestätigen.

Der Rechtsextremismus ist und war ein gesamtdeutsches Phänomen, nicht erst seit der Wiedervereinigung. Das Wegschauen und Wegschieben von Verantwortung, sagt Andreas Neumann-Nochten, sei damals wie heute das Gefährlichste. „Es macht mir doch auch keinen Spaß, den Finger immer wieder auf die alte Wunde zu legen. Aber wenn man sich nicht darum kümmert, heilt sie niemals.“

Noch etwas hat sich nicht verändert: „So schmerzlich es auch sein mag: Diese jungen Faschisten sind unsere Kinder“, schrieb Konrad Weiß 1988. „Wir dürfen sie nicht, nicht einen von ihnen, verloren geben.“

Von Oliver Reinhard

Konrad Weiß "Die neue alte Gefahr" Text von 1988 unter:
www.sz-online.de/weiss