Karl Nolle, MdL

DNN/LVZ, 10.01.2015

"Politik hat sich von Menschen entfremdet"

 
Interview mit dem Leipziger Sozialwissenschaftler Strube

Leipzig. Pegida und Legida sind viel mehr als eine Anti-Islam-Bewegung - das sagt Ulrich Strube (59). Der Leipziger Sozialwissenschaftler und Vorsitzende des Bundes mitteldeutscher Grafikdesigner fordert, die Unzufriedenheit der Menschen ernst zu nehmen.
 
Strube kommt aus der DDR-Bürgerbewegung, war nach der Friedlichen Revolution lange CDU-Ortsvorstand Leipzig-Mitte und auch stellvertretender Kreischef.

Wo sehen Sie die Ursachen für die Pegida/Legida-Bewegung?

Der Bürger ist in der Politik kaum relevant. Es dreht sich nahezu alles um Wachstum - doch die Ökonomie muss für den Menschen da sein, und nicht umgekehrt. Auf diese Weise kristallisiert sich ein Verlierer-Image heraus, das gefährlich werden kann. Viele Menschen fühlen sich vergessen, abgehängt, und sehen sich dann beispielsweise gegenüber Zuwanderern zurückgesetzt. Kurzum: Die Politik hat sich von den Menschen entfremdet.

Sie denken, die Bewegung hat ihre Wurzeln in Neid und Unzufriedenheit?
Nicht unbedingt im Neid, aber eindeutig in Unzufriedenheit. Es ist ein großer Fehler zu glauben, es ginge nur um den Islam - dieses Thema ist für die meisten Sympathisanten nur der Aufhänger. Ich denke, es geht um ein Sammelsurium an Inhalten, um die gesamte Sozialproblematik. Man sollte die Bewegung deshalb nicht verteufeln, sondern ernst nehmen und sich mit den eigentlichen Ursachen auseinandersetzen.
 
Wie kommt es, dass in Dresden nicht nur der 89er Ruf "Wir sind das Volk" zu hören ist, sondern auch ausländerfeindliche Parolen?

An der Asyl-Debatte werden alle Defizite der heutigen Politik sichtbar: Es wird vorgesetzt, ohne zu erklären, ohne die Menschen mitzunehmen - es wurden schlichtweg die politischen Hausaufgaben nicht erledigt. Das Problem ist: Es gibt keine ausreichenden Strukturen, es mangelt an realitätsnahen Konzepten. Und das trifft im Übrigen nicht nur auf die Asyl-Debatte zu. Stattdessen werden die Menschen mit ihren Ängsten - ob nun begründet oder unbegründet - allein gelassen.

Woher stammt diese Angst, zum Beispiel vor Überfremdung? Der Ausländeranteil liegt in Sachsen knapp über zwei Prozent, Muslime machen gerade mal knapp ein halbes Prozent der Bevölkerung aus.

Das liegt zum einen im Menschen selbst begründet: Alles Fremde macht zunächst einmal Angst. Ob das nun das Essen ist, das Wohnen, die Kultur. Hinzu kommt, zweitens: Viele Menschen kennen die Bilder aus westdeutschen Großstädten, wo Parallelgesellschaften entstanden sind. Wenn diese Ängste ignoriert werden, wenn nicht erklärt und verstanden wird, entstehen Ressentiments, die kaum noch auszuräumen sind. Was wir außerdem nicht vergessen dürfen: Die Hysterie gegen den Islam ist seit den Anschlägen vom 11. September in der westlichen Welt befördert worden - es wurde von der Bedrohung der Welt gesprochen, es sind große Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden. Und, es gibt ja auch tatsächlich reale Bedrohungen.

Einer Ihrer Soziologen-Kollegen hat Pegida kürzlich anhand eines Demokratie-Defizits der Ostdeutschen erklärt.

Im Gegenteil: Viele Ostdeutsche haben die Demokratie sehr wohl verinnerlicht - und mit der Wende beim Wort genommen. Genau deswegen sind so viele enttäuscht. Man hat sich etwas anderes vorgestellt, sicherlich auch mehr Mitsprache erhofft. Nicht ohne Grund wird jetzt unter anderem "Wir sind das Volk" gerufen. Deshalb, glaube ich, spitzt sich mit Pegida/Legida auch eine Systemkritik zu, die viel mehr Inhalte transportiert als nur die Kritik an einer gefühlten Islamisierung. Weshalb ist denn bei der Landtagswahl 2014 mehr als die Hälfte der Sachsen zu Hause geblieben? Das wird kaum, wie gern behauptet, am Wetter oder an Ferien gelegen haben.

Sie sagten, man müsse sich mit den Ursachen auseinandersetzen. Auf welche Weise stellen Sie sich das vor?

Um es zunächst mal klar zu sagen: Ich werde am Montag auch nicht bei Legida in Leipzig sein. Die Antwort sollte nicht Entsetzen oder die mittlerweile übliche Einteilung in Gut und Böse sein. Wenn jetzt nur wieder ein Protest dagegen kommt, wird sich nichts ändern, vielmehr wird die Bewegung noch mehr Zulauf haben. Die Politik hat die vordringliche Aufgabe, das Gemeinwesen zu führen - doch es wird immer noch in Kategorien des vergangenen Jahrhunderts gedacht. Pegida/Legida sollte dazu führen, dass wieder ein Austausch zwischen den von vielen Menschen als "unten" und "oben" empfundenen Ebenen bewirkt.

Interview: Andreas Debski