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Sächsische Zeitung, 03.02.2015

„Ostdeutschland gibt es nicht mehr“

 
Der Soziologe Heinz Bude versucht sich in seiner Dresdner Rede in der ultimativen Pegida-Diagnose. Und die kommt beim Publikum erstaunlich gut an. „Ich bin ja als Westdeutscher zu riechen“, sagt Heinz Bude. Man hört ihm trotzdem gerne zu
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Von Marcus Krämer

Man kann sich Professor Bude auch gut als einen Chefarzt vorstellen, weißer Kittel, Lederpantoletten, Stethoskop um den Hals. Er nähert sich dem Patienten mit jener Mischung aus freundlich-gewinnender Offenheit und nüchtern-analytischer Distanz, die einen guten Arzt ausmacht: „So, was haben wir denn da?“ Dann stellt er eine Diagnose, die einerseits beunruhigend ist, andererseits durch die Verwendung medizinischen Fachvokabulars irgendwie tröstlich klingt, denn dann gibt es bestimmt auch eine Therapie. Als spräche er: „Sie haben eine Gallenblasenruptur, aber das kriegen wir schon wieder hin.“

In Wirklichkeit trägt Heinz Bude keinen Kittel, sondern einen karierten Dreiteiler, dazu rote Krawatte und jägergrüne Karosocken. Er ist auch mitnichten Chefarzt, sondern Professor für Soziologie. Und er steht nicht am Krankenbett, sondern auf der Bühne des Dresdner Schauspielhauses. Heinz Bude hat am Sonntag mit seinem Vortrag über die Angstgesellschaft eine neue Reihe der Dresdner Reden eröffnet, die seit vielen Jahren vom Staatsschauspiel Dresden und der Sächsischen Zeitung veranstaltet werden. Selten hat man das Glück, einen Redner zu finden, dessen Thema so brandaktuell ist.

Im September vorigen Jahres erschien Budes neues Buch „Gesellschaft der Angst“, in dem er die Krisen, Spaltungen und Ungewissheiten der letzten Jahre analysiert. Kurz darauf begannen in Dresden die ersten Pegida-Märsche. Über dieses Timing ist Bude selbst überrascht. Für seine Rede hat er die wichtigsten Thesen seines Buchs mit einem besonderen Blick auf Ostdeutschland zugespitzt – wohl wissend, dass solche Ferndiagnosen oft erst mal auf Skepsis stoßen. „Ich bin ja als Westdeutscher zu riechen“, gibt Bude zu. Es ist auch dieser selbstironische Charme, mit dem er sein Publikum für sich gewinnt.

Bevor er auf Ostdeutschland kommt, holt der Soziologe weit aus und erinnert daran, dass ganz Europa zurzeit mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Neid auf Deutschland blickt. Die Frage sei also, warum ein Teil der Deutschen es trotzdem nicht mehr hören will, wenn immer wieder gesagt wird, dass es uns so gut geht wie lange nicht mehr. Die Antwort darauf ist seiner Ansicht nach ein gewisser Gerhard Schröder. Dessen Reformpolitik habe „das Fenster aufgemacht“: Deutschland sollte fit gemacht werden für den internationalen Wettbewerb, und das habe auch gut funktioniert. Zugleich sei durch diesen Wettbewerb „ein neues Dienstleistungsproletariat“ entstanden: Menschen, die zwar einen festen Job haben, aber keine Chance mehr sehen, gesellschaftlich aufzusteigen. „Sie können nicht Obergebäudereiniger werden“, sagt Bude.

Die ganze Zeit spricht er frei, schaut kaum aufs Manuskript. Sein Blick wandert über die Ränge des ausverkauften Schauspielhauses. Mal redet er bodenständig wie ein Wirt aus einer Eckkneipe in seiner Geburtsstadt Wuppertal, mal streut er soziologisches Vokabular ein wie „wachsende interkommunale Abstandsnahme“ oder „Vulnerabilisierungserscheinungen der gesellschaftlichen Mitte“. Damit meint er eine „neuartige Spaltung“ der Gesellschaft, die etwa durch das Dienstleistungsproletariat drohe. Aber auch durch eine Mittelschicht, in der es Juristen gibt, die kaum mehr verdienen als Hartz-IV-Bezieher.

Die Angst, die jetzt vorherrsche, sei zumeist eine Angst vor dem Verlust des hart Erarbeiteten. Wenn Eltern in Bayern heute nachts schweißgebadet aufwachen, so Bude, dann vor allem deswegen, weil sie um die Gymnasialempfehlung für ihr Kind bangen. In Dresden müsse es bitteschön das St.-Benno-Gymnasium sein. Für solche Schlenker hat Bude die Lacher im Publikum auf seiner Seite.

Was aber bewirken diese Ängste? Vor einigen Jahren hat Bude sich an einem Forschungsprojekt beteiligt, das herausfinden wollte, wer islamophob ist und warum. In der Umfrage konnte man unter anderem ankreuzen, ob man dafür sei, dass Muslimen die Zuwanderung verboten wird oder ob Muslimen gar jede Form der Religionsausübung untersagt werden soll. „Wenn Sie das mit ,Ja‘ beantworten, tut mir leid, dann haben Sie irgendwie ’nen Knall“, sagt Bude und macht eine Wischbewegung mit der Hand vor der Stirn. Das Theaterpublikum applaudiert dankbar. Bude wartet genüsslich ab und setzt dann die Pointe: „Leider sind das 30 Prozent der Befragten.“

Diese 30 Prozent wurden in der Studie noch einmal genauer untersucht, und dabei wurden drei Gruppen ausgemacht. Erstens die „Selbstgerechten“, die zu den Aufsteigern gehören, „ein Häuschen haben und einen Campingplatz“, und nun in ihren Kreisen nicht behelligt werden wollen von Fremden. Zweitens die „Übergangenen“, also das beschriebene Dienstleistungsproletariat, das in Zuwanderern nun auch noch eine Konkurrenz um die Arbeitsplätze sieht. Drittens die Gruppe, die Bude die „Verbitterten“ nennt: hochgebildet, herumgekommen in der Welt, gehobenes Mittelklasse-Auto in der Garage, womöglich Immobilienbesitz – aber irgendwie haben sie das Gefühl, dass sie immer „unter ihren Möglichkeiten bleiben mussten“. Sie konnten nicht zeigen, was wirklich in ihnen steckt. Daraus erwächst die Haltung: „Ich hab’ doch auch nichts geschenkt gekriegt …“

Diese Gruppe der Verbitterten findet Bude besonders interessant. „Und von denen gibt es in Ostdeutschland mehr als in Westdeutschland.“ Auf große Erwartungen sei nach der Wende bei vielen eine große Enttäuschung gefolgt, danach ein langes Warten, dass es besser werde – und schließlich die Erkenntnis: Wer jetzt nicht eine „Raketenexistenz“ geschafft hat wie Angela Merkel, „der kriegt’s nicht mehr hin“. Den Zeitpunkt dieser Resignation datiert Bude etwa auf das Jahr 2000. Danach hätten viele „Inventur“ gemacht, nach dem Motto: „Was ist eigentlich noch da?“

Verstärkt wird das Ganze für Bude noch dadurch, dass sich die ostdeutsche Gesellschaft spaltet. Die Gewinner der Wende wollen nichts mehr zu tun haben mit denen, die es nicht geschafft haben. Für Bude steht fest: „Ostdeutschland gibt es nicht mehr.“ Das Einzige, was noch bleibe, sei der verzweifelte Ruf „Wir sind das Volk“. Gerade deshalb komme ihm die Parole so „einsam und so verloren“ vor, dass es ihm eine Gänsehaut bereite.

Pegida wird sich bald auflösen, davon ist der Soziologe überzeugt. „Die allermeisten werden dann ins Lager der Nichtwähler zurückkehren.“ Und mancher wird vielleicht zufrieden hinterherrufen: „Nervt uns nicht mit euren Schicksalen!“ Dies aber, so Bude, sei gewiss keine gute Schlussfolgerung.

Ebenso wenig sei es hilfreich, wenn mit neumodischen Begriffen wie „Zivilgesellschaft“ argumentiert wird. Die Leute werden misstrauisch, weil sie ahnen: Bedeutet „Zivilgesellschaft“, dass wir weniger Rente kriegen? Oder dass das Krankenhaus geschlossen wird? Stattdessen empfiehlt Bude, ein altbewährtes Schlagwort aus der Mottenkiste zu holen: Solidarität. Kaum hat er’s ausgesprochen, gibt es Applaus.

Dabei fasst Bude den Begriff mit spitzen Fingern an: Solidarität kenne meist keine Regeln, sei selten auf Dauer bestimmt und gründe auch nicht auf Vernunft. „Solidarität kommt immer aus dem Herzen, manchmal auch aus dem bösen Herzen.“ Man könne sich auch in Abgrenzung zu anderen solidarisieren. Trotzdem bleibt er dabei: „Solidarität ist gefährlich, aber wir haben keine andere Quelle“, wenn es um den Kitt geht, der die Gesellschaft zusammenhält.

Bude wünscht sich von der Politik, dass sie viel stärker an die Solidarität der Menschen appelliert. In Gerhard Schröders Wettbewerbsgesellschaft gelte die Logik: Jeder ist auf sich allein gestellt. Dabei habe die Regierung versäumt, gleichzeitig zu vermitteln, „dass wir auf niemanden verzichten können“. Das Motto müsse lauten: „Das ist dein Leben, aber es ist ein Platz für dich da.“ Gerade der sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich habe „eine große Gelegenheit verstreichen lassen“, um jetzt den richtigen Ton zu treffen. „Darunter“, sagt Bude, „leide ich ein bisschen.“

Der Begriff Solidarität macht seiner Ansicht nach mehr Ehrlichkeit in der Debatte möglich, nicht zuletzt im europäischen Rahmen. Die Politik der Europäischen Zentralbank zum Beispiel findet Bude gar nicht so falsch – auch wenn sie bedeutet, dass unsere Ersparnisse durch die niedrigen Zinsen an Wert verlieren. Aber welcher Politiker traut sich, das so offen zu sagen? Im Grunde bedeute es, dass die Deutschen Solidarität üben mit anderen Ländern. „Es gibt kein anderes Land in Europa, das jetzt dazu in der Lage ist“, sagt Bude.

Nach der Rede gibt es warmen Applaus und eine fast herzliche Diskussion mit dem Publikum. Mehrere, die sich zu Wort melden, bedanken sich ausdrücklich für Budes Analyse. Einer sagt sogar: „Sie haben mir aus dem Herzen gesprochen.“ Also, haben Sie vielen Dank, Herr Doktor!