Karl Nolle, MdL

SPIEGEL ONLINE, 16.11.2018

Ex-Kanzlerkandidat Martin Schulz - "Er gehört wieder in die erste Reihe"

 
Der gescheiterte SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hofft auf ein Comeback. Eine absurde Vorstellung – oder etwa nicht?
 
Von Veit Medick

Ein Morgen im November, neun Uhr, Martin Schulz sitzt beim Frühstück in seinem Berliner Hotel. Vor ihm ein Kaffee, neben ihm ein Mitarbeiter. Seit einer Stunde analysiert der Ex-Kanzlerkandidat die Weltpolitik. Donald Trump? Habe bei den Kongresswahlen endlich mal auf die Mütze bekommen. Europa? Müsse mal die Kurve kriegen. Und die SPD?

"Wir müssen dann jetzt los", sagt sein Helfer.

Schulz bleibt sitzen. Nichts beschäftigt ihn dieser Tage so sehr wie die große Misere der Sozialdemokratie. Er streckt den Rücken durch, verschränkt die Arme vor der Brust. Kampfhaltung.

"Es läuft beschissen", sagt Schulz. "Aber sollen wir deshalb den Laden dichtmachen? Nee, danke."

Martin Schulz ist jetzt 62, und es ist schon eine erstaunliche Geschichte, dass er überhaupt noch Politik macht. Nach seinem fürchterlichen Scheitern bei der Bundestagswahl hätte er allen Grund dazu, sich endlich den schönen Dingen im Leben zuzuwenden, der Ehe, dem Garten oder dem Schreiben. Stattdessen fliegt er durch die Welt und tritt im Fernsehen auf, widmet sich der Frage, ob seine Partei noch zu retten ist, und grübelt darüber, welche Rolle er dabei spielen könnte.

Im Moment hat er praktisch nichts, kein Amt, keinen Wahlkreis, keinen Apparat. Schulz, die Ich-AG. Als Abgeordneter ist er schwer unterfordert, aber aufhören will er nicht. In der SPD ist es ein offenes Geheimnis, dass er noch etwas vorhat in der Bundespolitik. Minister, Fraktionschef, was auch immer. Es ist sein letztes Solo.

Wie bitte? Dieser Schulz? Die Vorstellung, der Ex-Kanzlerkandidat könnte nach seinem Aus politisch noch einmal wiederbelebt werden, erschien bis dato absurd. Die Eseleien im Wahlkampf, die vorschnelle Absage der Großen Koalition, seine gescheiterte Operation Außenminister: Niemand in der Partei schien sich nach ihm zu sehnen. Dass er trotzdem vom Wiederaufstieg träumte, ließ ihn lange wie eine tragische Figur wirken, die sich ihr eigenes Scheitern nicht eingestehen wollte.

Doch der Misserfolg der neuen Führungsspitze verschiebt die Maßstäbe. Schulz' Ergebnis war historisch schlecht, aber gemessen an den Umfragen unter Andrea Nahles erscheint sein Resultat von 20,5 Prozent schon wieder akzeptabel. Als Parteichef wirkte er orientierungslos, aber von klarem Kurs kann auch unter Nahles und Olaf Scholz nicht die Rede sein.

"Es war ein Fehler, Schulz abzuräumen", sagt Florian Post, bayerischer Bundestagsabgeordneter, der einst zu Schulz' Gegnern zählte: "Er gehört wieder in die erste Reihe. Jeder sieht doch, dass es so nicht weitergehen kann." Und einer aus der Parteispitze sagt: "So, wie wir ihn jetzt einsetzen, ist Schulz verschenkt."

Viele beobachten ihn nun wieder in der SPD. Sie glauben, er habe ein Auge auf den Fraktionsvorsitz geworfen – für den Fall, dass Nahles scheitern sollte, was angesichts ihrer Schwierigkeiten nicht völlig undenkbar ist. Unsinn, sagt Schulz. Wenn es um seine Zukunft geht, sagt er nur, er sei zufrieden als Abgeordneter. Dann zitiert er Ariel Scharon: "Die Politik ist ein Riesenrad. Das dreht sich immer. Mal biste unten, mal biste oben."

Aber dass er Nahles' Schwäche durchaus auszunutzen weiß, zeigte sich zuletzt mehrmals. Jüngstes Beispiel: die Fraktionssitzung am Dienstag vergangener Woche. Im Otto-Wels-Saal auf der dritten Etage des Bundestags herrscht schlechte Stimmung: Die Umfragen trostlos, die Führung unsicher, das Hessen-Ergebnis beschämend – unter den Abgeordneten ist die Sorge groß, dass ein Weiter-so die Lage noch mehr verdüstert.

Zwölf jüngere Abgeordnete preschen vor, sie fordern, der Union beim Streit um ein Werbeverbot für Abtreibungen ein Ultimatum zu stellen. Nahles stoppt die Initiative. "Ich bin schwer enttäuscht von euch", hält sie den Parlamentsneulingen entgegen. Spannungen im Fraktionssaal. Mehrere Frauen verlassen den Raum. Nahles wird nervös. "Wo geht ihr denn jetzt hin?", fragt sie, als wittere sie eine Verschwörung. Dabei haben die Kolleginnen einfach nur vor der Tür einen Fototermin zu 100 Jahren Frauenwahlrecht.

Wenig später, Auftritt Schulz. Auch er sei ja kein Anhänger der GroKo gewesen. Aber die Basis habe nun mal entschieden. "Und im Koalitionsvertrag steht nicht, dass wir nach jeder Landtagswahl wieder die Mitglieder fragen." Sonst könne man kein Projekt mal durchtragen. Deshalb heiße es jetzt regieren und kämpfen. Für Europa, gegen rechts, für Demokratie und gegen den globalen Kapitalismus. Es ist ein Appell, nicht die Nerven zu verlieren. Applaus rauscht durch den Saal. Sogar Olaf Scholz, mit Schulz in Abneigung verbunden, schickt ihm noch während der Sitzung eine Glückwunsch-SMS zu dem Auftritt. Verrückte Zeiten.

Zur Wahrheit gehört: Auch Schulz verlor in der Fraktion häufig die Nerven, auch er war wahrlich kein Meister darin, Projekte durchzusetzen. Wie chaotisch er die Partei führte, hängt ihm bis heute nach. Er stand nach seiner Wahlniederlage als Dussel da. Aber inzwischen, das ist auffällig, schafft er es, hin und wieder die Sehnsucht nach Klarheit zu bedienen. Es sind die simplen Botschaften, die Nahles aufgrund ihrer Rollen nicht überbringen kann – er dagegen schon.

Berlin, Reichstag, die SPD-Fraktionssitzung ein paar Wochen zuvor. Unangenehmes Thema: Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien. Nahles und Heiko Maas, der Außenminister, müssen erklären, warum trotz eines ausdrücklichen Exportverbots im Koalitionsvertrag noch immer Patrouillenboote nach Riad geliefert werden. Die beiden winden sich. Nun ja, das seien bereits beschlossene Lieferungen, argumentiert Maas. Und außerdem seien die Exporte Angelegenheit des Bundessicherheitsrats. Die Außenpolitiker empören sich. Die Rüstungsexperten warnen vor einer Glaubwürdigkeitsfalle.

Dann greift sich Schulz das Mikro. Auch er kann nicht fassen, was er da hört. Er erinnert an das friedenspolitische Gewissen.

"Das", ruft Schulz Maas und Nahles entgegen, "muss jetzt das letzte Mal gewesen sein." Alle klatschen. Nahles und Maas sitzen bedröppelt auf ihren Stühlen.

Schulz verbringt viel Zeit damit, Verbündete zu sammeln. Er spricht sich ab mit allen maßgeblichen Genossen aus Nordrhein-Westfalen, hält seine Kontakte zur Parlamentarischen Linken, reist durch die Republik zu einzelnen Abgeordneten. Er will Nahles nicht stürzen sehen. Es ist ein eigenartiges Verhältnis: Er möchte, dass sie Erfolg hat, weil die Koalition auch sein Werk war. Sie hält den Kontakt, weil sie weiß, dass sie ihren Job auch ihm zu verdanken hat.

Aber wenn Schulz die Chefin jetzt erlebt, sieht er sich auch selbst auf den letzten Metern seiner unglücklichen Vorsitzendenzeit. Wie er damals ist auch sie inzwischen mehr mit dem Innenleben der Partei beschäftigt als mit dem politischen Gegner. Wie bei ihm führt der Überlebenskampf zu Verunsicherungen und Fehlern, Der Frust, die öffentliche Kritik, die eigene Fraktion, die die Parteispitze treibt. Es gibt viele Parallelen.

Sie wisse jetzt, wie er sich gefühlt habe, sagte Nahles kürzlich vor der Fraktion.

Für Schulz ist die Lage ambivalent. Einerseits will er die Loyalität zurückzahlen, die sie ihm einst gab. Andererseits sieht er ihre Schwächen. Nur darf er sich nichts anmerken lassen. Schulz weiß, dass er allenfalls dann noch mal die Chance auf eine Rolle bekommt, wenn er nicht zündelt.

Was Schulz nicht versteht, ist, warum Nahles das Thema Europa so stiefmütterlich behandelt und warum sie so selten Emotionen zeigt. Also macht er es. Wie neulich, als er im Plenum spontan aufstand und mit Alexander Gauland abrechnete. Die AfD, schimpfte Schulz, gehöre "auf den Misthaufen der deutschen Geschichte". Im Parlament war was los. Endlich Leidenschaft, endlich Haltung. So sahen es die einen in der SPD.

Die anderen in der Partei schlugen die Hände über dem Kopf zusammen. Sie sahen den alten Schulz, der nur seinen Instinkten folgt und allzu plump argumentiert. Zu viel Bauch, zu wenig Kopf. Einer, der auf Effekte setzt, wo andere strategisch denken. Zum Fremdschämen. Und so einer soll eine neue Chance kriegen?

Im Zweifel einfach antreten und schauen, was passiert – das ist der Traum von Schulz' Freunden, wenn der Posten des Fraktionschefs frei werden sollte. Es gibt leichtere Projekte. Nahles ist angeschlagen, aber nicht akut bedroht. Der mächtige Fraktionsvorsitz wäre wohl das Letzte, was sie abgeben würde. Und selbst wenn der Job neu besetzt werden müsste, wirkte es eigenartig, wenn die SPD auf einen "Gescheiterten" setzte. Entsprechend gelassen ist man in ihrem Umfeld. Eine Sehnsucht nach der Vergangenheit? Kann in ihrem Team niemand erkennen.

Nur ist Politik eben unberechenbar geworden. Jene, die nicht in die Zeit zu passen scheinen, sind mitunter erstaunlich erfolgreich, auch weil sie das wachsende Misstrauen gegenüber dem vermeintlich gesunden Menschenverstand verkörpern. Die Underdogs haben Zulauf. Bernie Sanders hat in den USA aus einer kleinen Truppe eine große Bewegung gemacht, Jeremy Corbyn ist auf seine alten Tage Chef der britischen Arbeiterpartei geworden. Schulz ist kein Sanders, und von Corbyn trennen ihn europapolitisch Welten. Aber was in der SPD passiert, wenn die Umfragen mal einstellig sind und im Mai die Europawahlen verloren gehen, ist unvorhersehbar. Gibt es so viele andere Genossen, die mal eben Fraktionschef könnten? Sigmar Gabriel vielleicht, der Ex-Außenminister. Mit ihm tauscht sich Schulz inzwischen wieder regelmäßig aus. Auch das haben sie in der SPD mit Interesse registiert.

Der Samstag vergangener Woche, die SPD trifft sich im Funkhaus Berlin zum Debattencamp. Schulz ist nicht da. Und irgendwie doch. Hier ticken die meisten so wie er: Wir müssen lauter werden, klarer und härter, das ist die Botschaft.

Nahles diskutiert über die Zukunft der europäischen Linken. Auch António Costa ist gekommen, der Premier aus Portugal. Costa spricht über Gerechtigkeit und seine Wut auf die Sparpolitik. Mittendrin ruft er: "Erlaubt mir, einem großen Europäer herzlich zu danken: Martin Schulz."

Der Saal tobt. Verrückte Zeiten.