Karl Nolle, MdL

Süddeutsche Zeitung, 27.09.2005

Kritik aus den eigenen Reihen

Die CDU ist von der neoliberalen Epidemie infiziert
 
Die christlich-soziale Bewegung ist heimatlos geworden. Von der SPD fühlt sie sich nicht angezogen, von der CDU im Stich gelassen. Denn: Kopfpauschale und Einheitssteuer stehen im Widerspruch zu allen Vorstellungen über Gerechtigkeit. Ein Gastbeitrag von Norbert Blüm

Es wird Herbst. Die Blätter des Neoliberalismus fallen weltweit. Dass er so schnell welken würde, hätte selbst ich nicht erwartet.

Seine Vorreiter hinken hinter der Entwicklung her, ohne bemerkt zu haben, dass sie bereits Nachzügler sind. Am Wahlsonntag fiel der Raureif auch auf die deutschen Blütenträume: „Deregulierung, Privatisierung, Wettbewerb“ - das Programm, das ein Papagei aufsagen könnte, reicht halt doch nicht für eine Ordnung, die sich sozial nennt.


Blüm: "Die Kahlschläger des Neoliberalismus sind auch hierzulande keine Kassenschlager geworden."

Die Kahlschläger des Neoliberalismus sind auch hierzulande keine Kassenschlager geworden. „Kürzen“ - auf dieses Wort lassen sich alle Vorschläge der deutschen Arbeitgeberverbände zurückführen. So einfallslos war keiner der Vorgänger des heutigen Arbeitgeberpräsidenten.

Die Vorstandsbezüge schnellen in die Höhe. Nie war der Abstand zwischen Durchschnittslöhnen und Managergehältern größer. Gegenüber den Empfehlungen der Arbeitgeberfunktionäre zur Lohnzurückhaltung war die Heuchelei der Pharisäer geradezu stümperhaft.

Von sicheren Lehrstühlen herab empfehlen gut dotierte Professoren „Flexibilisierung“ und „weg mit dem Kündigungsschutz“.

Nur noch nostalgische Relikte vom Christlich-Sozialen. Am schmerzlichsten berührt mich, dass meine gute, alte CDU sich von dieser flatterhaften, neoliberalen Epidemie infizieren ließ.

Die CDU war einst deshalb zur großen Volkspartei erstarkt, weil sie konservative, liberale und christlich-soziale Ideen zu einer produktiven Synthese vereint hatte. Von den Christlich-Sozialen sind nur noch nostalgische Relikte übrig geblieben.

Die christlich-soziale Bewegung ist heimatlos geworden. Von der SPD fühlt sie sich nicht angezogen, von der CDU im Stich gelassen. Die großen liberalen Ideen sind zu einem Wirtschaftsrezept verkümmert.

Kopfpauschale und Einheitssteuer widersprechen elementaren Gerechtigkeitsvorstellungen der christlichen Soziallehre. Sie sind Schablonen, mit deren Hilfe alles über einen Kamm geschoren werden soll. „Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandeln“ ist der Kern des uralten Gerechtigkeitsgedankens. Das Gerechtigkeitsprinzip ist das Prinzip der Differenzierung - und nicht der Nivellierung.

Gigantische Bedürftigkeitsprüfungsbürokratie

Die Kopfpauschale wird auch nicht dadurch erträglicher, dass ihre Wirkung durch staatliche Zuschüsse für die niedrigen Einkommensbezieher kompensiert werden soll. Beitrag und Steuer widersprechen dem Subsidiaritätsprinzip.

Diejenigen, die ausgezogen waren, den Staatseinfluss zu minimieren, maximieren den Staat zu einer gigantischen Bedürftigkeitsprüfungsbürokratie à la Hartz IV.

Das Steuersystem muss zwar auch aus Gründen der Gerechtigkeit vereinfacht werden, weil seine Komplikationen nur von den Cleveren ausgenutzt werden können (und das sind inb der Regel nicht die Lohnsteuerzahler). Aber muss man deshalb gleich das Kind mit dem Bade einer flat tax ausschütten?

»Der Prototyp des flexiblen Arbeitnehmers ist der Tagelöhner.«

Das Biotop, in dem die Idee einer Einheitssteuer erblühte, ist ein Hort des tief sitzenden Misstrauens gegen jede Art von Verteilungsgerechtigkeit. Aber schon die alten Griechen wussten, dass kein Staat ohne Verteilungsgerechtigkeit zu machen ist. Stärkere Schultern müssen mehr tragen als schwächere.

Der Grundsatz war wahrscheinlich schon im Neandertal bekannt. Verteilungsgerechtigkeit funktioniert freilich nur wechselseitig: Was schuldet der Einzelne der Gemeinschaft und was schuldet die Gemeinschaft dem Einzelnen?

Verteilungsgerechtigkeit beinhaltet bekanntlich Rechte und Pflichten. Eigenverantwortung und Mitverantwortung sind aufeinander angewiesen, weil der Mensch, jedenfalls nach der christlichen Soziallehre, Individual- und Sozialwesen ist.

Vergangenheit wird wieder Zukunft

Der deregulierte Arbeitsmarkt wird als neues Patentrezept für Beschäftigung angepriesen. Aber was im Frühkapitalismus schon falsch war, das wird auch im Spätkapitalismus nicht richtig.

Das sozialrechtlich geschützte Arbeitsverhältnis wird klammheimlich zum atypischen Arbeitsverhältnis. Jeder vierte Arbeitnehmer unter 25 Jahren arbeitet bereits in einem Arbeitsverhältnis ohne Kündigungsschutz. Das befristete Arbeitsverhältnis wird zum Normalarbeitsverhältnis.

Der Prototyp des flexiblen Arbeitnehmers ist der Tagelöhner. Vergangenheit wird wieder Zukunft.

Wie sollen unter diesen Bedingungen ein junger Mann oder eine junge Frau eine Ehe schließen? Noch nicht einmal bei einer Sparkasse erhalten die beiden Kredit. Ihre Einkommensverhältnisse sind unbeständig.

Die CDU kann sich ihre familienpolitischen Höhenflüge sparen, wenn sie weiter auf dem Kirmesplatz der deregulierten Arbeitsverhältnisse Hochzeit feiert. In die Sozialauswahl des herkömmlichen Kündigungsschutzes ist die Rücksicht auf die Kinderzahl des Arbeitnehmers eingebaut. Soll das alles wegfallen?

Betriebsräte sollen die Gewerkschaften bei Lohnverhandlungen ersetzen. Dann bedarf der Betriebsrat allerdings auch des Rechts auf Streiks. Das setzt eine Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes voraus. In einer vernetzten Wirtschaft lassen sich so durch gezielte Lahmlegung der Knotenpunkte mit minimalem Aufwand maximale Wirkungen erzielen.

Eine Wirtschaftsordnung, in der Entlassungen regelmäßig mit Gewinnsteigerungen prämiert und mit Kurssteigerungen an der Börse honoriert werden, mag von Nobelpreisträgern der Ökonomie als der Weisheit letzter Schluss angepriesen werden. Das Volk aber versteht diese Logik nicht.

Die christliche Soziallehre entkrampft den Verteilungskampf durch investive Ertragsbeteiligung der Arbeitnehmer. „Eigentum für alle“ war schon die Forderung Ludwig Erhards, mit der er soziale Marktwirtschaft von der sozialistischen Wirtschaft mit ihrem „Eigentum für niemanden“ und der kapitalistischen Wirtschaft mit „Eigentum für wenige“ abgrenzte.

Miteigentum für Arbeitnehmer entlastet die kollektiven Sicherungssysteme, ohne den Weg über mächtige investitionslenkende Pensionsfonds gehen zu müssen.

Eine Globalisierung, die zum weltweiten Lohndumping führt, schafft sich selber ab, weil sie sich um die Käufer bringt, welche die so hergestellten Produkte kaufen können.

Die Textilarbeiterinnen, die in Bangladesch für einen Euro Tageslohn arbeiten, können die Shirts nicht kaufen, die sie genäht haben. Dem Neoliberalismus gehen die Anhänger aus. Schon in Deutschland fehlt ihm die Mehrheit.

Der Beifall von enthusiastischen Parteitagsdelegierten ist noch nicht gleichbedeutend mit der Zustimmung des Wahlvolks. Angela Merkel die Hauptschuld am Wahldesaster zu geben, ist eine feige Flucht. Schließlich hat der ganze Leipziger Parteitag gejubelt.

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Norbert Blüm war von 1982 bis 1998 Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung im Kabinett von Kanzler Helmut Kohl.