Karl Nolle, MdL

Die Zeit, 10.05.2001

"Zu viel Gier schadet dir"

In Sachsen neigt sich die Ära Biedenkopf unweigerlich dem Ende zu
 
DRESDEN. Zu den alberneren Pflichten deutscher Ministerpräsidenten gehört es, allerlei folkloristischen Geschichtsschauspielen beizuwohnen, Kostümspektakeln, mit denen die Bürgerschaft von X der Schlacht von Y gedenkt, unter reichlicher Verwendung von Wämsern, Harnischen, Hellebarden und angeklebten Bärten aus dem örtlichen Theaterfundus. Gern wird der angereiste Landesvater darin einbezogen und scherzhafterweise als fürstliche Persönlichkeit angeredet, in Stelzprosa oder Knittervers. Dem sächsischen Regierungschef Biedenkopf mag dergleichen noch öfter als seinen Amtskollegen begegnen, weil er das heimische Identitätsbrauchtum besonders nachdrücklich pflegt und alle Welt in als „König Kurt“ kennt.


Nachzahlungen sind zu erwarten

Auf dem deutsch-polnischen Brückenfest in Bad Muskau am vergangenen Wochenende war es ein Bänkelsang von zwei klampfenden Scholarengestalten, den Biedenkopf in dieser Rolle anhören musste. Das Liedchen handelte von einem Speisewunder, der mirakulösen Vermehrung von Fischen in einem Kloster, mit der es aber ein Ende hat, als die Mönche übermütig werden und alles Zaubergetier auf einmal verspeisen. Es war, was nicht jeder gleich bemerkt haben dürfte, ein Lehrgedicht. Als der Tross des Ministerpräsidenten schon aufbrach, einem Stand mit Schmalzstullen entgegen, rief der Sänger dem hohen Besuch noch die Moral hinterher: „Zu viel Gier / schadet dir!"

Nach mehr als zehn guten Jahren, der zweifellos erfolgreichsten Regierungszeit in ganz Ostdeutschland, neigt sich Kurt Biedenkopfs Regiment in Sachsen auf unerquickliche Weise dem Ende zu. Opposition und Presse, lange harmlos bis servil, forschen nun mit immer peinigenderem Erfolg den Begleitumständen einer Alleinherrschaft nach, die bisher rundheraus bewundert oder als selbstverständlich hingenommen wurde; allenfalls zog sie etwas liebevollen Spott auf sich. Jetzt wird nach dem Mietzins gefragt, den der Ministerpräsident für seine Wohnung im Gästehaus der Regierung zahlt, und danach, warum mit dem jedenfalls moderaten Betrag auch die privaten Dienste des dort beschäftigten Personals abgegolten sein sollen. Die Ehefrau des Regierungschefs hat Fahrbereitschaft und Sicherheitsbeamte offenbar recht großzügig in Anspruch genommen, für die Leistungen des Staatskochs im Ferienanwesen am Chiemsee lassen sich nicht immer öffentliche Zwecke nachweisen, und eine Firma, in der Ingrid Biedenkopfs Schwiegersohn Geschäftsführer ist, durfte im Gästehaus putzen.

Nach anfänglich empörtem Abstreiten hat die Staatskanzlei einen Bericht vorgelegt, in dem die Seltsamkeiten teils wegdisputiert, teils zugegeben werden; Nachzahlungen des Ministerpräsidenten, zumindest an das Finanzamt wegen unberücksichtigter geldwerter Vorteile, sind zu erwarten, Korrekturen versprochen. Ausgestanden ist die Sache keineswegs, der Rechnungshof stellt eine eigene Untersuchung an. Er hatte schon 1994 die „hotelähnliche" Unterbringung und Versorgung der Biedenkopfs zu billig gefunden; warum aus diesem Votum keine energischen Konsequenzen gezogen wurden, wissen die Götter. Insgesamt geht das alles mit einer neuen Unnachsichtigkeit gegenüber der offenkundigen Präsenz und dem angeblichen Einfluss von Ingrid Biedenkopf einher, die sich seit je als eine Art erste Ombudsfrau des Landes vielfältiger Bürgerwehwehchen annimmt, nun aber unziemlicher Eingriffe in den Geschäftsgang von Regierung und Verwaltung verdächtigt wird.

In der sich ausbreitenden Entrüstung über die Selbstherrlichkeit des Hauses Biedenkopf steckt ein gehöriges Stück Heuchelei. Begeistert hatten Scharren von Journalisten über die „Regierungs-WG" die „Kommune" in der Dresdner Schevenstraße berichtet, in der die Frau des Ministerpräsidenten in den frühen neunziger Jahren das Kabinett ihres Mannes beherbergte, beköstigte und bemutterte - was für ein belebender Kontrast zur Politlangeweile im Westen! Niemand kann wirklich davon überrascht sein, dass dabei nicht immer auf die Wasseruhr geschaut wurde. Das war freilich in der turbulenten Anfangszeit. Die Minister und Staatssekretäre sind nach und nach ausgezogen, und irgendwann hätte es irgendwem auffallen müssen, dass man nicht ewig so formlos weitermachen konnte. Es ist, als sei das charmante, studentenhafte Chaos des Beginns unter der Hand in eine fragwürdigere Unbedenklichkeit umgeschlagen, in eine quasifeudalistische Privilegienwirtschaft: von der Jugendherberge zum Fürstenhof, ohne Umweg über die lästige Rechenschaftspflicht einer normalen Landesregierung.

Dieser Perspektivenwechsel, das erstaunte und wie düpierte Sich-die-Augen-Reiben im Angesicht von Zuständen, die vorgestern erfrischend unkonventionell waren, gestern niemanden kümmerten und heute plötzlich vordemokratisch wirken - das ist die eigentliche Pointe des Falles Biedenkopf. Er signalisiert auf seine Weise das Ende der Wiedervereinigungszeit, der Abenteuer- und Gründerjahre im wilden Osten; die Sonderabschreibungen sind ausgelaufen, und auf souveräne Nachlässigkeiten wird gleichfalls kein Rabatt mehr gegeben. So verwandelt sich auch die Rede von „König Kurt" aus einem netten Kosenamen auf einmal in einen peinlichen Anachronismus. So war es nun doch nicht gemeint, im Ernst ist Sachsen eben keine
Monarchie, und Biedenkopf muss jetzt dafür büßen, dass er oder seine Frau es dann und wann vergessen haben mögen. Oder muss er dafür büßen, dass die Öffentlichkeit es vergessen hat?

Die ganze Angelegenheit hätte sich kaum so gefährlich ausgewachsen, wenn in Sachsen nicht ohnehin das Machtvakuum einer politischen Endzeit herrschte. Dass der damals 69-jährige Biedenkopf nach seinem überwältigenden Wahlsieg im Herbst 1999 nicht noch einmal für eine volle Legislaturperiode im Amt bleiben oder gar ein viertes Mal kandidieren würde, konnte jeder sich denken; den vorzeitigen Rückzug aber anzukündigen war ein Fehler. Vollends irrational wirkte im Januar dieses Jahres die Entlassung des Finanzministers Georg Milbradt, des starken Mannes im Kabinett, des Einzigen, der sich halbwegs zwanglos als Nachfolger anbot. Für Biedenkopfs Geschmack hatte er sich freilich zu drängend angeboten, und außerdem hielt ihn der Ministerpräsident überhaupt für den Falschen.


Wo sind die Biedenkopf-Getreuen?

Der Verstoßene ist seither erst recht zum Gegenpapst in der sächsischen CDU geworden; im September wird er sich, vielleicht, um den Landesvorsitz bewerben. Viele reden davon, dass die Partei gespalten sei; ein Milbradt-Lager gibt es gewiss, aber kann man noch von einem Biedenkopf-Lager sprechen? Da sind die jüngeren Kabinettsmitglieder, unter denen der Regierungschef am Ende seinen Favoriten finden mag und die, anders als der Rebell und Haudegen Milbradt, auf den Frieden mit Biedenkopf und auf eine geordnete Erbfolge aus sind: Kultusminister Rößler, Europaminister Tillich, Landwirtschaftsminister Flath, Finanzminister de Maiziere. Aber lohnt die Treue zu einem Mann noch, der am Ende vielleicht nicht mehr die Kraft haben wird, diese Treue zu belohnen? Wie stark Biedenkopf selbst sein Autoritätsverfall bewusst ist, lässt sich schwer sagen. Er hat, wie ein Minister bemerkt, eine beträchtliche Suggestionsfähigkeit, die Gabe, um sich herum eine eigene Realität zu schaffen, in der alles in Ordnung ist - nur reicht diese Wirklichkeit, fährt der Beobachter mit einer Geste fort, bloß so weit wie der Umkreis seiner Arme.

Für jeden denkbaren Nachfolger stellt sich eine doppelte Aufgabe: den Sonderfall Biedenkopf hinter sich zu lassen, das Unwiederholbare also nicht zu kopieren, den Sonderfall Sachsen aber, mit der im Osten einmaligen Stärke der CDU, so weit wie möglich zu erhalten. Wie Georg Milbradt regieren würde, scheint ziemlich klar. Er ist der Vater der Dresdner Sparpolitik, die, wenn man auf die harten Daten und nicht auf den weichen Standortfaktor Biedenkopf schaut, den Hauptunterschied zu den übrigen neuen Ländern ausmacht. Mit Wachstum, Bruttosozialprodukt oder Arbeitslosenquote steht es nicht so viel anders als sonst im Osten, nur ist Sachsen weniger verschuldet und daher in seinem Spielraum weniger eingeschränkt. Milbradt fühlt sich als bloßer Kassenwart unterschätzt, und in der Tat ist er mehr, ein Knappheitsstratege und Schrumpfungsvisionär - nur jetzt nicht zu großzügig in Straßen oder Universitäten investieren, wenn es dank Abwanderung und Geburtenrückgang am Ende keine Sachsen mehr gibt, die dort fahren oder die dort studieren.

Was sich mit Milbradt ändern würde, wäre der politische Stil, weg vom Landesvatertum und hin zum Management. In gewissem Maße ist das unvermeidlich, aber zusammen mit der Spar- und Effizienzphilosophie ergibt sich doch ein recht kaltes Bild, das nicht jedem gefällt. „Milbradt will die Welt ökonomisieren", sagt Karlheinz Kunckel, der 1994 und 1999 Spitzenkandidat der SPD war und den ehemaligen Finanzminister persönlich ganz gern mag. Biedenkopfs Reiz und Widersprüchlichkeit sind es dagegen immer gewesen, dass er beides war, Wirtschaftsmensch und Intelektueller, bald sehr „amerikanisch“, bald wieder deutscher Bildungsbürger, wie sein Wissenschaftsminister Meyer etwas ratlos und doch nicht ohne Faszination feststellt. Auch das wird es nach Biedenkopf schwerlich noch einmal geben, gewiss nicht in Sachsen und kaum irgendwo sonst.

Wie die Politik der Kabinettsjunioren aussähe, ist weniger klar als bei Milbradt. Das Sächsische soll eine große Rolle spielen und das Soziale auch. Es sind, daran erinnert ein Minister, die kleinen Leute, die im Freistaat CDU wählen, dazu die Jungen; die DDR-Eliten und die Unzufriedenen finden sich bei der PDS; die technische Intelligenz, der Nukleus von Schröders Neuer Mitte, könnte auf Dauer zur SPD gehen. Landesidentität plus Volkswohlfahrt, ein starker und durchaus fürsorglicher Staat, allerwege dicht beflaggt - das wäre so etwas wie ein CSU-Programm. Es ist übrigens eine Richtung, in die jetzt viele in der Ost-Union blicken, schon weil die SPD in den neuen Ländern die unweigerlich westlastige Berliner Regierungspolitik mitvertreten muss und daher zur kraftvollen regionalen Interessenvertretung nicht recht taugt. Die CDU dagegen könnte die Ostpartei für PDS-Gegner werden. Was Dresden angeht, lässt sich die Losung „sächsisch und sozial" freilich auch sehr banal als Milbradt-Verhinderungsprogramm lesen: Er stammt aus Westfalen, und er ist „neoliberal". Also setzt man eine Stellenausschreibung auf, nach der er aus dem Bewerberfeld ausscheidet.

Es liegt, wie jeder spürt, etwas Unverhältnismäßiges in der Buchprüferei, mit der Biedenkopf nun überzogen wird. In der Dresdner Gefühlsmischung dieser Tage findet sich allerlei: Jagdfieber und Zukunftsangst, Tragödienstimmung, schiere Ratlosigkeit und natürlich auch Schadenfreude. Aber Befriedigung? Peter Porsch, dem PDS-Chef, ist der Gedanke anstößig, dass Biedenkopf über einen politisch belanglosen Skandal stürzen könnte: „Wir sind eben auch schon Bestandteil dieser Spaßgesellschaft'" Er würde den Ministerpräsidenten lieber als Protagonisten des gescheiterten Aufbaus Ost fallen sehen als einen, der zu sehr auf große Projekte und große Namen gesetzt hat, auf die Pierers (Siemens) und Schickedanz (Quelle), auf hohe „Leuchttürme", um die herum es ziemlich dunkel blieb. Der Sozialdemokrat Kunckel meint zwar nicht, dass Biedenkopfs Strategie verkehrt war, aber auch er glaubt, dass ihre Zeit vorbei ist und damit auch die Zeit des Mannes, der sie verkörperte. Statt der patriotischen Dienstverpflichtung befreundeter Wirtschaftskapitäne nun eine Politik für die Jungen, die Kleinen, die Beweglichen, die Dienstleister. Und ohne Personenkult.

Das kommt einem bekannt vor - Dezentralisierung, „kleine Lebenskreise", Abschied vom industriellen Tonnen- und Kolonnendenken, Netzwerk statt Hierarchie. Es sind typisch Biedenkopfsche Ideen. Mag sein, dass er als Regierungschef wenig davon verwirklicht und alles in allem einen recht konvontionellen Asphalt-und-Fabriken-Aufbau betrieben hat, vom Duodezhaften einmal ganz abgesehen. Aber dass seine Kritiker ihre Kritik bei ihm gelernt haben, dass der Biedenkopf-Nachfolger zur Biedenkopf-Verwirklichung aufgefordert wird - das ist doch hübsch.


Erbsenzähler im Angriff

Nehmen wir Berlins Spitzenfriseure, die Arbeitsdirektoren der deutschen Montanindustrie oder den Durchschnittsstürmer der 2. Bundesliga: Sie alle verdienen wesentlich mehr als die neidumstellten deutschen Politiker, Ministerpräsidenten und Kanzler inklusive. Allen ist gemein, dass sie ihren Beruf selbst gewählt haben. Letztere freilich sind schnell kündbar, wenn es den Parteifreunden und den Wählern so gefällt. Dass ihre Leistungen für das Wohl des Landes etwas wichtiger sind als diejenige der anderen Berufsgruppen, wird die jeweilige Opposition bestreiten. Das ist ihre Aufgabe. Doch es ist nicht ihre Aufgabe, die hoch entwickelten Reflexe der deutschen Neidkultur zu mobilisieren, um Ministerpräsidenten zu stürzen.

Ob Kurt Biedenkopf auf 100 oder 150 Quadratmetern im Gästehaus der sächsischen Regierung gewohnt hat, ob Köchin, Putzfrau oder Gärtner für ihre steuerlich subsidierten Dienstleistungen ein Fahrtenbuch zur genauen Abrechnung von privaten beziehungsweise amtlichen Strecken zwischen Küche, Besenkammer und Komposthaufen geführt haben, ja, ob irgendwelche Leibwächter Ingrid Biedenkopfs Einkaufstüren getragen haben oder nicht - dies ist kein wirkliches Thema erwachsener Politiker. Außer in Sachsen? Ist die ehemalige DDR-Elite vielleicht doch nur über die Ledergarnitur von Harry Tisch (FDGB), über Erich Honeckers Lebensstil (Volvo) oder über Schalck-Golodkowskis Beschaffungsmaßnahmen zugunsten des Politbüros (französische Walderdbeeren) zu Fall gekommen?

Dass führende Politiker ihre gepanzerten Dienstwagen, ihre Chauffeure bei privater Nutzung unter dem Titel „geldwerter Vorteil" versteuern müssen (zum Beispiel, wenn sie des Nachts nach Hause fahren), gehört zum kleinkariertem Stil unserer Beamtenrepublik. Deren treue Diener sind bereit, wenn's verlangt wird, ihren hohen (Dienst-)Herren zu zeigen, wer die wahre Macht im Lande hat: die Erbsenzähler.

Kurt Biedenkopf, der längst kein Privatleben mehr genoss, hat mehr für Sachsen geleistet, als sich in Quadratmetern und Fahrtenbüchern bemessen lässt. Möge er seinen Freunden und Feinden - der Unterschied scheint gering - den letzten Gruß eines seiner Vorgänger entbieten:
„Macht euren Dreck alleene!"
(Jan Ross)

Karl Nolle im Webseitentest
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