Karl Nolle, MdL

Berliner Zeitung - Magazin, 12.01.2002

Macht doch euern Dreck alleene!

Über Kurt, andere sächsische Könige und den Radikalopportunismus ihrer Untertanen
 
Zum Jahreswechsel 2002 verblüffte der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU) seine Untertanen zwischen Mulde und Erzgebirgskamm mit dem Hinweis, dies sei nun die letzte Neujahrsrede seiner Amtszeit. Zwölf habe er gehalten. Schluss, aus. Der viel beschworene Rücktritt naht. Und der Tropfen, der das Fass nach der so genannten Paunsdorfer-Affäre um den Verdacht des Freundschaftsdienstes für den Bauunternehmer aus dem Westen und nach Billigmieten auf dem Weißen Hirsch für Kurt und seine Gattin Ingrid zum Überlaufen brachte, war der vorweihnachtliche Einkauf des Ehepaares bei Ikea, wo sie 15 Prozent Rabatt für irgendein Möbelstück gegen alle Regeln des Einrichtungshauses, aber mit allen Tricks der Macht aushandelten. Zum eigenen Vorteil? Gott bewahre! Eine wärmende Decke für die Dresdner Babyklappe sollte beim Aushandeln herausspringen.

Schade, dass eine so glanzvoll begonnene Dekade von Biedenkopfs Regierung derart peinlich zu Ende gehen muss. Aber das sächsische Herrscherpaar, zumeist dankbar angenommen von den Sachsen und leider nicht nur bekannt geworden durch Verdienste am Wahlvolk, sondern auch durch eigenen Verdienst, steht vor dem unrühmlichen Abgang. Ob sich der Ministerpräsident mit dem Satz verabschieden wird wie der sächsische König Friedrich August III. 1918? Der hatte mürrisch mit den Worten abgedankt: "Macht doch euern Dreck alleene."

Sächseln kann Kurt Biedenkopf vermutlich. Das hat er gelernt, als sein Vater in den dreißiger Jahren mitsamt Familie in die Merseburger Chemiegegend zog. Da wird das kleine Kurtchen, sicher schon damals ein heller Kopf, so manche Redensart aufgeschnappt und manche absonderliche Lebensart studiert haben. Vielleicht half ihm die Kenntnis des wunderlichen Idioms, nach der Wende so schnell und so gut bei den Sachsen anzukommen. Weshalb es ihm möglicherweise nach seinem Abgang so wie besagtem Friedrich August ergehen könnte, der Mitte der Zwanziger mal nach Chemnitz kam und durch ein Spalier jubelnder Ex-Monarchisten mit dem Ruf schritt: "Ihr seid mor scheene Rebbubliganor."

Biedenkopf könnte einer solchen Menge, vom Tegernsee kommend, vielleicht entgegenhalten: "Ihr seid mir schöne Sozis." Aber um den Roten vorzubeugen sägen Biedenkopfs eigene Leute momentan kräftig an seinem Thron, damit recht bald ein CDU-Mann ihn ersetze. Nur hat Biedenkopf vergessen, dass er nicht wie die früheren sächsischen Herrscher in Erbfolge steht, sondern ein Wahlkönig ist, der seine Nachfolge nicht geregelt hat.

Täuscht es uns, dass man in Leipzig (trotz heldenhafter Oktober- und Novemberdemos im Herbst 89) und in Dresden (trotz blutiger Schlägereien vor dem Hauptbahnhof am 4. Oktober) stets ein wenig Sehnsucht hat nach einem starken Menschen, der zeigt, wo es lang geht? Wir erinnern uns in diesem Zusammenhang an die Demonstration vom 19. Dezember desselben Jahres an der Frauenkirchenruine, wo dem damaligen Bundeskanzler Kohl unter schwarz-rot-goldenen Bannern mit den Rufen "Helmuud, redde uns!" und "Helmuud, nimm uns an dor Hand und fiehre uns ins Wirdschafdswunderland!" aufs Untertänigste und Ergreifendste gehuldigt wurde. Was ihn außerordentlich zu beeindrucken schien. Schon da hätten jene misstrauisch werden müssen, die Sachsen wie auch Thüringen vor den Volkskammerwahlen im März 1990 quasi als sozialdemokratische Kernlande auf ihrem Zettel hatten.

Vielleicht hatten die Propheten des künftigen DDR-Ministerpräsidenten Ibrahim Manfred Böhme zu viel in die Bücher geguckt, beispielsweise den Brockhaus von 1908, der mitteilte, dass bei den Reichstagswahlen vom Juni 1903 sämtliche sächsischen Wahlkreise bis auf einen an Sozialdemokraten gingen. Von den zwanziger Jahren und der Nachkriegszeit gar nicht zu reden. Die Sachsen wählten pragmatisch die Westmark, die schien ihnen bei der CDU in den besseren Händen als bei der SPD.

1960 stand mein damaliger Mittellateindozent Johannes Schneider vor der Tür des Übungsraumes 2079 im Hauptgebäude der Humboldt-Universität und redete auf mich jungen Spund mit folgenden Sätzen ein: "Detlev Lücke, glauben Sie es mir als altem Dresdner. Die Sachsen waren die schlimmsten Braunen, und jetzt sind sie die schlimmsten Roten." Starker Tobak, diese sächsische Farbenlehre. Die schlimmsten Schwarzen? Mal abwarten. Hatte der Landsmann nicht eventuell doch ein bisschen übertrieben? Ein Blick in Woerls Reisehandbücher "Chemnitz", erschienen 1936 in Leipzig, macht stutzig. Über das sächsische Manchester, heute übrigens von einem sozialdemokratischen Bürgermeister regiert, heißt es im Vorwort: "Die Stadt Chemnitz hat im Kampf um die nationalsozialistische Erhebung Großes geleistet und zahlreiche Blutopfer gebracht. Heute künden eine Reihe von Straßenbezeichnungen die Namen der Helden, die für ihren geliebten Führer und das große deutsche Vaterland fielen. Bald schon hatte sich die Stadt den Ehrentitel ,Des Führers treueste Stadt erworben, und als das deutsche Morgenrot, mit ungeheurem Jubel in Chemnitz begrüßt, aufging, da war es diese Stadt der Arbeit, die unmittelbar als erste Stadt Deutschlands den Führer zum Ehrenbürger von Chemnitz ausrief."

Ende der Durchsage. Chemnitz von Bombenangriffen durchsiebt wie manch andere Stadt, die dem Führer nicht ganz so straffe Treueschwüre schenkte. Es schüttelte sich den Ruinenstaub aus den Knochen und erhielt Anfang der Fünfziger den Ehrennamen Karl-Marx-Stadt. Des Dialektikers treueste Stadt? Womöglich. Aber in einem durchaus sympathischen Sinne, denn seine Einwohner wehrten sich nach der Wende mit Erfolg, den gewaltigen Karl-Marx-Kopf des sowjetischen Bildhauers Lew Kerbel, im Volksmund respektlos Nischel genannt, dem Schmelztiegel der Geschichte zu opfern.

Zwickau, nur 50 Kilometer von Karl-Chemnitz-Stadt entfernt, sollte nach Meinung seines Bürgermeisters Erasmus Stella aus dem 16. Jahrhundert den Stadtnamen einem gewissen Cygnus, direkter Nachfahre des Herkules, verdanken. Vielleicht gab diese heroische Deutung Adolf Hennecke 1952 den entsprechenden Kick, im Zwickauer Kohlebergbau die Aktivistenbewegung loszutreten. Im selben Jahr wurde der "Zwickauer Plan" entwickelt, der der II. Parteikonferenz der SED als "Beispiel vorbildlicher Arbeitsinitiative auf ökonomischem und kulturellem Gebiet vorgelegt werden konnte", wie es in einem Stadtführer von 1965 heißt. Tja, die Stadtführer. Sie scheinen der Pulsfühler der jeweiligen Epoche gewesen zu sein. Der Zwickauer teilt uns noch mit, dass Ernst Thälmann bei den Reichspräsidentenwahlen von 1932 rund 20 Prozent aller abgegebenen Stimmen im Wahlkreis Chemnitz-Zwickau erhielt. Rätselhaftes Sachsen zwischen deutscher Morgenröte und roten Arbeiterfahnen.

Was kann Kurt Biedenkopf dafür, dass in seiner Wahlheimat ein derart auffälliger Dialekt gesprochen wird, so präsent, dass Westdeutsche noch heute denken, auch die Ostseefischer hätten gesächselt. Dabei war es lediglich so, dass die DDR, westvulgo Zone beziehungsweise Zoffjetzone, einfach mehrheitlich von jenen Menschen bewohnt wurde, die ein so genanntes Obersächsisch sprechen, das noch zur Lutherzeit als Hochdeutsch galt. So wie mancher heutzutage jenes putzige Idiom für Hochdeutsch hält, das zwischen Rhein und Harz, also dem Ruhrgebiet im allerweitesten Sinne, gesprochen wird, wo nunmehr die meisten Bundesdeutschen zu Hause sind.

Mehrheitsvölker sind selten Sympathieträger. Das mussten auch unsere Sachsen schnell erfahren, nachdem sie mit der Geburt der jungen Deutschen Demokratischen Republik deren Hauptstadt und andere wichtige Regionalzentren als Funktionäre von Partei, Verwaltung, Polizei, Zoll, Armee oder Hochschulen und Universitäten besetzten. Zumal auch der "König" Walter Ulbricht, gewissermaßen Sachse in nuce, wenig Punkte für seine Landsleute sammeln konnte, wenn er sein Leipziger Fisteln begann.

Andererseits hielten sächsische Vertreter stets Kontakt zu unseren Brüdern und Schwestern im Westen, wenn sie an den Grenzübergängen mit ihrer Aufforderung "Gennse vleisch mal ihrn Goffer effnen" den deutsch-deutschen Dialog am Leben hielten. Alt-Bundesbürger blühen sofort auf, wenn das Spiel gespielt wird: Kennst du einen Satz, der mit "Gänsefleisch" beginnt?

Apropos Altbundesbürger. Buschzulage haben die Sachsen nicht gekriegt, als sie zur Aufbauhilfe nach Berlin, Potsdam oder Rostock kamen. Im Gegenteil, in den späteren Jahren der DDR wuchs der Hass auf die Hauptstadt, die mit Apfelsinen, Neubauten und Trabis reicher versorgt wurde als der Rest der Republik. Was die Bewohner des heutigen Freistaates in die Lage versetzt, mit wendeherbstlichem Opferpathos zu stöhnen: "Was mir under dän Berlinorn gelidden ham!"

Aber was soll s, die Aufrechnerei nutzt sowieso stets nur den Falschen. Vergangenheit ist Vergangenheit und Gegenwart Gegenwart. Weshalb wir auch nicht darüber spotten wollen, dass es in Dresden angeblich Hochdeutschkurse für junge Leute gibt, die ins Geschäftswesen einsteigen wollen und deshalb die chemische Reinigung aller verbalen Eigenheiten dem Nullsprech des Zeitgeistes opfern. Wenn es der Zukunft nutzt... Da bekommt man ganz schnell Sympathie für das Sächsische und erinnert sich an die Fahrt nach Leipzig, als auf dem Hauptbahnhof ein altes Ehepaar in den starken Sturm hinausging und der Mann sagte: "Gugg ma Erna, dor Wind gämmt meine Hoare nach vorne."

Vielleicht hat Kurt Biedenkopf diese Mentalität "seiner" Sachsen lieb gewonnen und sie für bare Münze genommen. Landesvater wollte er endlich einmal sein, und die Wähler stärkten ihn in dieser Rolle. Traumergebnisse haben er und seine CDU erreicht. Stutzig machen können hätte ihn schon 1990 die Neigung der Hiesigen zur raschen Idolisierung des jeweiligen Führungspersonals. Berghofer, den Dresdner Bürgermeister der Wendezeit, machten sie zu Bergatschow. Zur Eröffnung einer Leipziger Bezirkskunstausstellung stand der damalige Kulturstadtrat vor dem Porträt Kurt Masurs und rief beglückt und ohne Ironie aus: "Wie aus dem Gesicht geschnitten, unser Masuro Ui!" Immer ein unstimmiges Bild, eine zu hoch gegriffene Attitüde. König Kurt könnte auch so eine gewesen sein. Nun steht er in der Ahnengalerie mit August dem Starken, Friedrich dem Streitbaren, Johann dem Beständigen und Friedrich dem Sanftmütigen.

"Sachsens Glanz und Preußens Gloria" hieß eine erfolgreiche Fernsehserie in der DDR. Sie beschrieb die Differenz der beiden Königreiche ziemlich genau. Sachsen verlor zwar fast sämtliche Kriege im 18. und 19. Jahrhundert, weil es fast immer Verbündeter der Verlierer war. Aber nach dem Zweiten Weltkrieg kam es ziemlich ungerupft davon, bis auf den Reichenauer Zipfel bei Zittau, der an Polen fiel. Ein großer Unterschied zum ungeliebten nordöstlichen Konkurrenten. Das Plebejische, das dem letzten echten König anhing wie auch Schriftstellern vom Schlages eines Ringelnatz oder Stefan Heym, hat sich als überlebenstüchtiger erwiesen. Kurt Biedenkopf sollte, falls er es nicht schon getan hat, einmal Hans Reimanns Anekdoten über Friedrich August lesen. Zum Beispiel die, wo er nach Eröffnung eines neuen Opernhauses die Primadonna fragt, wie denn "de Aggusdik im neien Hause" sei. Und die Sängerin antwortet: Wunderbar. Und er nachhakt: "Un warum ham Se denn so gebrillt?" So was bleibt besser in Erinnerung als Ikea, über dessen Peinlichkeit Erfolge wie die Ansiedlung von Siemens und VW in Dresden oder BMW in Leipzig leider verblassen.

Das einstige Staatsvolk der DDR, wie es mancher vergröbernd gesehen hat, konnte stets durch seine Vigilanz, seine Wende- und Wandlungsfähigkeit verblüffen. Fast ist man geneigt, dieses Überlebenstalent als sächsischen Radikalopportunismus zu adeln. Gelegentlich hatte der durchaus etwas Subversives. Wie bei jener Stadtführerin 1956, die den aus der ganzen Republik zum Pioniertreffen angereisten kindlichen Delegierten bei der Dresden-Rundfahrt mit der Straßenbahn stolz von August dem Starken berichtete: Er hat sich s was kosten lassen für seine Geliebten.

Übrigens gehen die Sachsen mit Königen, wenn die größere oder kleinere Probleme haben, eigentlich recht rücksichtsvoll um. Beispiele dafür können wir schon in Erich Kästners wunderbaren Erinnerungen "Als ich ein kleiner Junge war" lesen. Der 1899 in Dresden geborene Autor beschreibt, wie der bereits erwähnte Friedrich August winkend im Wagen durch die Residenzhauptstadt fuhr. "Wir winkten zurück und bedauerten ihn ein bißchen. Denn wir und alle Welt wußten ja, daß ihm seine Frau, die Königin von Sachsen, davongelaufen war. Mit Signore Toselli, einem italienischen Geiger!" Zu Weihnachten, schreibt Kästner weiter, ging der Monarch mit hochgeschlagenem Mantelkragen durch die Prager Straße und blieb vor den Spielwarenläden stehen. "Die Passanten stießen sich an, flüsterten: ,Der König! und gingen eilig weiter, um ihn nicht zu stören. Er war einsam. Er liebte seine Kinder. Und deshalb liebte ihn die Bevölkerung. Wenn er in die Fleischerei Rarisch hineingegangen wäre und zu einer der Verkäuferinnen gesagt hätte: ,Ein Paar heiße Altdeutsche, mit viel Senf, zum gleich Essen! , wäre sie bestimmt nicht in die Knie gesunken, und sie hätte sicher nicht geantwortet: ,Es ist uns eine hohe Ehre, Majestät! Sie hätte nur gefragt: ,Mit oder ohne Semmel? " Vielleicht ein Trost für Kurt Biedenkopf, falls er einstens über die Prager Straße flanieren sollte.

Biedenkopf steht nicht in Erbfolge wie die sächsischen Könige, sondern ist ein Wahlkönig, der seine Erbfolge nicht geregelt hat.

Das Plebejische, das dem letzten echten König anhing, hat sich als überlebensfähig erwiesen.

AP/MATTHIAS RIETSCHEL, VISUM/FRANCOISE SAUR. Kopf ab - August der Starke wird demontiert. Das Reiterstandbild in Dresden vor der Restaurierung.
(Detlev Lücke)

Karl Nolle im Webseitentest
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