Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, 12.06.2001

Raus aus der Meckerecke

In Dresden rätselt die CDU, warum ihr Kandidat Herbert Wagner die erste Wahlrunde verlor
 
DRESDEN. Hier an diesem Tisch wurde die Initiative offiziell gegründet", sagt Christian Bahnsen in seiner Buchhandlung im Kunsthof auf der Görlitzer Straße. Das ausziehbare Möbel mit den geschwungenen Beinen ist ein schönes Stück aus der Gründerzeit. Über ihm hängt ebenfalls als Kontrast zur sachlichen Buchhandelsatmosphäre ein sechsarmiger verschnörkelter Leuchter. Der brannte auch an jenem Dezemberabend, als sich an die fünfzehn Männer und Frauen um den Tisch versammelten und etwas taten, was nicht alltäglich ist: Sie beschlossen, sich einzumischen und Politik zu machen, ohne eine Partei zu fragen. Am 14. Dezember informierte die SZ mit einer Zehn-Zeilen-Meldung: "Initiative ,OB für Dresden´ gegründet". Den Parteien dürfte das nur ein müdes Lächeln abverlangt haben. Der ersten Einladung zur öffentlichen Debatte folgten rund 40 Dresdner. Inzwischen sind die Belächelten von damals mit ihrem Kandidaten Ingolf Roßberg die Sieger der ersten Dresdner-OB-Wahlrunde.

Günter und Christine Starke, beide freischaffende Fotografen, saßen im Dezember mit am Gründerzeittisch. Der Urdresdner Starke wollte "raus aus der Meckerecke, in die ich mit meiner Unzufriedenheit über die Entwicklung in der Stadt geraten war". Den 56-Jährigen störte vor allem, "dass die Parteien immer nur sich sehen und dass mit der CDU alles immer mehr auf eine Ein-Parteien Geschichte rauslief in Dresden und der Bürger nicht mehr gefragt war". Wenn bei ihm die Haltung "Es hat eh keinen Zweck" die Oberhand zu gewinnen drohte, trieb ihn seine Frau an: "Lass uns was tun." Und als ihn dann Freunde fragten, ob er mittun würde, sagte er nur: "Warum nicht, ehe wir ganz verknuspern ..."


Die Angst, dass Dresden einschläft

So traf sich im Dezember ein Häufchen Unzufriedener. Der Schriftsteller Thomas Rosenlöcher war dabei, weil er sich um den Abbau kultureller Substanz in Dresden sorgte. Christian Bahnsen machte mit, "weil ich immer mehr den Eindruck hatte, dass Dresden langsam einzuschlafen beginnt, so langsam geht alles voran". Bahnsen kam vor zehneinhalb Jahren von Hamburg nach Dresden, fühlt sich aber längst als Einheimischer. Auch Dietrich Herrmann ist Neudresdner seit 1994. Der TU-Sozialwissenschaftler lebte lange in Heidelberg und Berlin und ist einer der geistigen Urheber der OB-Initiative. "Wenn es bei den Kandidaten bleibt, kannst du das erste Mal in deinem Leben nicht zur Wahl gehen", sagte er sich schon im Herbst vorigen Jahres. Damals waren Herbert Wagner (CDU), Karl Nolle (SPD), Christine Ostrowski (PDS) und der parteilose Wolfgang Berghofer im Gespräch. Vor allem Herrmann suchte Freunde und Mitstreiter. Viele von ihnen feierten am Sonntag ihren Erfolg bis weit nach Mitternacht im Wahlkampf- und Bürgerbüro auf der Maxstraße. Nur Starkes mussten zeitiger fort; er hatte gestern früh einen Termin zur Auswahl der Fotos für einen neuen Band über das Schloss.

Während die einen feierten, hatte die CDU ihre Wahlkampfparty abgesagt und rätselte über die Ursachen der Niederlage ihres Kandidaten. Die kam so unerwartet wie Schneefall im Juni. Offen schien nur noch die Höhe des Wagnerschen Sieges und ob es schon in der ersten Runde reichen würde. Anders konnte es doch nicht kommen, zählt doch Dresden nach elf Jahren Herbert Wagner zu den ostdeutschen Vorzeigestädten. Das historische Zentrum erblüht, die Touristen strömen her, High-Tech siedelt sich an. Dresden ist schön und wird noch schöner. Warum dann diese Ohrfeige? Wirkte sich etwa die Biedenkopfsche Affäre aus? Warum aber wurden dann ganze Landkreise vom CDU-Einbruch verschont? Oder blieben Wagners Sympathisanten aus zu viel Siegessicherheit der Wahlurne fern. Der Fragen sind viele.

Eine Antwort hatte die Gruppe der Unzufriedenen schon gegeben, als sie sich das erste Mal an Bahnsens Tisch in der Buchhandlung traf. Da war sie sich nur in zwei Punkten einig, mit denen sie aber offenbar - wie sich am Sonntag herausstellte - ein Grundgefühl nicht weniger Dresdner traf: Wagner nicht noch mal, Berghofer auf keinen Fall. Es ist nicht so, dass die Dresdner prinzipiell etwas gegen Herbert Wagner hätten. In der von der SZ in Auftrag gegebenen repräsentativen Umfrage erhielt er für seine elfjährige OB-Arbeit eine 2,9 - keine schlechte Note, sozusagen annehmbarer Durchschnitt. Aber von Sympathie und Zuneigung ist das weit entfernt. Nichts gegen Wagner, sagen viele Dresdner, aber wenn es nach elf Jahren mal ein anderer probiert, wäre auch nicht schlecht. Die vielen kleinen Alltagsärgernisse stützen solches Denken. Das jahrelange Hickhack um den Tunnel am Hauptbahnhof, der jetzt wenigstens fertig ist. Die ständig neuen Pläne für den Postplatz, der immer noch furchtbar aussieht. Und der Stau, der nicht kleiner wird. Und die Brücken, die der eher spröde wirkende Wagner zu schlagen verspricht, von denen er aber in elf Jahren keine gebaut hat.


Dieses bestimmte Gefühl, ein Dresdner zu sein

Vielleicht trifft auch zu, was Christian Starke sagt: "Die Dresdner haben ein bestimmtes Gefühl für ihre Stadt. Ich finde, das hat Wagner nicht." Herbert Wagner lebt schon Jahrzehnte in Dresden, aber das Dresdner Gemüt - was auch immer das ist - scheinen viele bei ihm zu vermissen. Und wenn er spricht, hören sie immer noch den Mecklenburger. Der Dresdner aber bevorzugt echte Dresdner.

Möglicherweise ist das Rätsel auch ganz einfach zu lösen. Hätten die anderen Parteien schon vor sieben Jahren für einen gemeinsamen Kandidaten gekämpft, hätte CDU-Mann Wagner vielleicht schon damals verloren. Die Opposition geeint zu haben, ist der eigentliche Erfolg der Initiative der Unzufriedenen.

Christian Starke hat mit Parteien überhaupt nichts am Hut. "Die sehen nur sich selbst", sagt er. Als die Bürgerinitiative das erste Mal mit Parteien sprach, habe die nur bewegt, was das für ihre Prozente bedeuten könnte. Starke würde am liebsten ganz auf die Parteien verzichten. "Das geht aber auch nicht", hat er seit Dezember gelernt. Denn hätten sich nicht SPD, PDS, Bündnisgrüne und FDP hinter den von der Initiative erkorenen Ingolf Roßberg gestellt, "hätten wir auch keine Chance gehabt". Und noch etwas hat Christian Starke gelernt: "Es lohnt, sich einzumischen und nicht nur in der Meckerecke zu stehen."
(Jörg Marschner)

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