Karl Nolle, MdL

spiegel-online, 17:02 Uhr, 07.07.2012

Verfassungsschutz: "Und wenn es doch Absicht war?"

 
Eine Kolumne von Georg Diez

Chaos und Willkür - oder doch eher gezielte Vertuschung? Im Fall der Aktenvernichtung beim Verfassungsschutz sollten wir uns nicht mit der schwer widerlegbaren Erklärung zufrieden geben, diese Panne sei aus reinem Dilettantismus entstanden. Wir müssen weiter Fragen stellen.

Es gibt Fragen, auf die will man eine Antwort finden: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Wann ist der Ball im Tor?

Und es gibt Fragen, auf die will man, so scheint es, lieber keine Antwort finden: Wie kommt zum Beispiel ein Beamter des Verfassungsschutzes dazu, genau an dem Tag ein paar wichtige Akten zu vernichten, an dem Deutschland entdeckt, dass es militanten, mordenden rechten Terror gibt?

Bei den ersten Fragen sind wir diese Woche ein Stück weitergekommen, dank Vernunft und Technik, mit dem Higgs-Teilchen und der Torlinienkamera. Bei der zweiten Frage begnügen wir uns weiter mit Nebel und Trivialpsychologie.

Es sei wirklich ein "Rätsel", sagte der CDU-Obmann im Untersuchungsausschuss des Bundestages, Clemens Binninger. Es werde immer "mysteriöser", sagte der Grünen-Politiker Wolfgang Wieland. Er habe "keine überzeugende Erklärung", sagte der scheidende Chef, Heinz Fromm. Und Hans Leyendecker nannte den Vorgang in der "Süddeutschen Zeitung" schlicht "dumm und unsensibel".

Das ist natürlich erstmal viel leichter und viel angenehmer, so zu denken: in Anweisungen, Abläufen, Amtswegen, mit Worten wie Verjährungsfristen zu argumentieren, vom "schwerwiegenden Ansehensverlust" (Fromm) zu sprechen, und festzustellen, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz kein "Hort des Datenschutzes" sei, wie es der Vorsitzende des Untersuchungsausschuss, Sebastian Edathy von der SPD, ausdrückte.

Aber trifft das die Sache? Ist es wirklich so ein Rätsel, ist es wirklich mysteriös, wenn in einem Umfeld, das verseucht ist von V-Leuten, die ihre Honorare schon mal dazu nutzen, die Strukturen aufzubauen, die sie eigentlich ausforschen sollten - wenn in so einer Behörde ein Beamter etwas tut, das total Sinn macht: Wenn man ein Motiv hat, wenn man es mit Absicht tut?

"Chaos und Willkür", so lautet die eine Antwort - aber was wäre denn, wenn es nicht falsche Abläufe, sondern falsche Überzeugungen wären, wenn es nicht Chaos wäre, sondern System: Warum wird diese im Grunde nahe liegende Frage so wenig gestellt, wir reden hier ja nicht von einem Kindergarten, sondern von einer Behörde, bei der 2600 Menschen arbeiten und die aus dem Bundeshaushalt immerhin 189 Millionen Euro bekommt, da kann man etwas Rationalität schon mal unterstellen?

Kann es sein, dass man sich scheut, zum möglichen Kern dieser Affäre vorzudringen? Was wäre, wenn es nicht Inkompetenz war, sondern Absicht? Und warum wird dieser Punkt so sehr vermieden, von den Politikern, aber auch von den meisten Medien? Heinrich Wefing hat in der "Zeit" gerade noch mal daran erinnert, dass sich gleich nachdem die so genannte "Zwickauer Zelle" aufgeflogen war, die Frage aufdrängte, ob es "ein klammheimliches Zusammenwirken, eine ideologische Sympathie, eine hilfreiche Nähe von Rechtsextremisten und Verfassungsschützern" gebe - die Polizei ging ihre Ermittlungen ja auch erstmal mit dem Stichwort von den "Döner-Morden" an, eine rassistische Weltsicht, die auch so benannt wurde. Inzwischen hat sich das wieder etwas verändert. Hans Leyendecker lässt dieses Nachdenken über einen möglichen ideologischen Hintergrund im Versagen des Verfassungsschutzes weg, redet nur noch davon, dass die Polizisten "ein Jahrzehnt lang ein Phantom aus dem weiten Reich der Organisierten Kriminalität" jagten - und schließt daraus: "Was bei der Fehleranalyse, die erst begonnen hat, Angst machen muss, ist das handwerkliche Dilettieren so vieler Behörden."

Ist das wirklich das Problem, das uns Angst machen muss? Ist das überhaupt der Fall? Chaos ist ja eine fast perfekte Tarnung, Willkür ist etwas, das man erstmal behaupten kann und schwer widerlegen. Ideologie ist manchmal flüchtig. Wir sollten einfach weiter Fragen stellen. Denn logisch, sinnvoll oder nur nachvollziehbar sind die Antworten bislang nicht. Und der Verdacht wiegt damit, bis er ausgeräumt ist, schwerer als nur Dilettantismus.

Karl Nolle im Webseitentest
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