Karl Nolle, MdL

DNN/LVZ, 12.07.2012

Sächsische Schlampereien - Verfassungsschutzchef Boos muss gehen / Minister Ulbig sieht keinen Grund für Rücktritt

 
Dresden. Paukenschlag im Landtag: Sachsens Verfassungsschutzpräsident Reinhard Boos zieht aus Pannen bei den Ermittlungen zur Neonazi-Zelle NSU die Konsequenzen - und tritt zurück. Das teilte Innenminister Markus Ulbig (CDU) gestern in Dresden mit. Boos selbst habe um seine Versetzung zum 1. August gebeten. Grund sind Protokolle einer Telefonüberwachung im Terror-Umfeld von Ende 1998. Die sind plötzlich wieder aufgetaucht, obwohl es sie gar nicht geben dürfte.

Dem Minister war die Anspannung deutlich anzumerken. Mit versteinerter Miene ging Ulbig gestern Morgen außerplanmäßig ans Rednerpult im Landtag, und jeder ahnte sofort: Das ist kein leichter Gang. Schließlich hob der Ressortchef an und berichtete, was unvermeidlich schien: Im Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) Sachsen habe es eklatante Fehler gegeben; er, Ulbig, habe davon erst am Dienstagabend erfahren - und sofort ein Disziplinarverfahren gegen die betreffenden Mitarbeiter eingeleitet. Doch nicht nur das: Reinhard Boos, der Präsident im Landesamt, sei wegen des Falls zurückgetreten. Punkt. Der Rest war Schweigen im Plenarsaal.
Der Erste, der sich schließlich wieder gefangen hatte, war Miro Jennerjahn von den Grünen. Was er zu sagen hatte, klang wenig nett: Erst vor einer Woche, so Jennerjahns Vorwurf an den Minister, habe sich dieser klar hinter Boos gestellt. "Und nun bricht das Ganze wie ein Kartenhaus zusammen." Er habe den Eindruck, Ulbig habe sich vom "Innenminister zum Märchenonkel" entwickelt.
Dabei ist die Sachlage seit gestern in der Tat wenig schmeichelhaft. Bisher ist so viel bekannt: Ende des Jahres 1998 hat das Bundesamt für Verfassungsschutz die sächsischen Kollegen um Amtshilfe gebeten, es ging um eine Telefonüberwachung zum Zwickauer Terror-Trio - eventuell im Umfeld des Neonazi-Netzwerks "Blood & Honour". Dabei wurden Protokolle angefertigt, wie das so üblich ist bei den Geheimen.
Und da fangen die Probleme an: Denn eben diese Akten hätten eigentlich längst vernichtet oder zumindest ans Bundesamt zurückgeschickt werden müssen. Wurden sie aber nicht, sie befanden sich vielmehr still und heimlich im Tresor eines Mitarbeiters im Sächsischen.
Doch damit nicht genug: Wenn die Geheimprotokolle denn schon rechtswidrig im Landesamt gehortet wurden, hätten sie spätestens im Herbst 2011 an den Generalbundesanwalt und die verschiedenen Kontrollgremien weitergereicht werden müssen. Denn damals war das Terror-Trio gerade aufgeflogen, und die Behörden wurden aufgefordert, ihre Aktenbestände zu sondieren.
Genau das aber ist in Sachsen nicht umfassend geschehen, wegen "Schlampereien" einzelner Mitarbeiter, wie Ulbig gestern andeutete. Erst bei Räumarbeiten im Zuge der Umstrukturierung eines Referates seien die Protokolle gefunden worden. Besonders bitter daran ist, dass Sachsen bisher stets beteuert hatte, alle Akten an die zuständigen Gremien weitergegeben zu haben. Bei dem Mitarbeiter handelt es sich nach Informationen der Leipziger Volkszeitung um einen Verfassungsschützer, der gar nicht auf dem Feld des Rechtsextremismus eingesetzt war.
Daraus hat Boos die Konsequenzen gezogen. Laut Ulbig sei er "tief enttäuscht über diesen Vorfall" und sehe sich außer Stande, das Amt "mit dem gebotenen Vertrauen" weiterzuführen. Der Minister selbst schloss gestern einen Rücktritt aus. Gleichzeitig betonte er, er habe sofort den Generalbundesanwalt informiert. Nun gebe es "eine zweite Runde" der internen Kontrolle des Verfassungsschutzes, "erneut und sicherlich intensiver". Noch am Abend wollte sich die Parlamentarische Kontrollkommission (PKK) mit dem Thema beschäftigen.
Die Opposition wollte sich damit allerdings nicht zufrieden geben. "Auch dieser Fisch stinkt vom Kopf her", sagte Kerstin Köditz (Linke), "allerdings riecht das gesamte Tier unangenehm." Und überhaupt glaube sie nicht an den Aufklärungswillen von Verfassungsschützern. "Die Struktur der Geheimdienste macht dies unmöglich." Ulbig sei der größte Aufklärungs-Verhinderer und müsse ebenfalls seinen Hut nehmen. Ähnlich argumentierte Sabine Friedel (SPD): "Seit Monaten verweigert die sächsische Staatsregierung jegliche Aufklärung und Aufarbeitung. Was wir heute erleben, ist der Preis für dieses Nichtstun."

Von Jürgen Kochinke


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