Karl Nolle, MdL

tagesschau.de, 21:17 Uhr, 13.09.2012

Untersuchungsausschuss tagt in Berlin - "Schreddern, vertuschen, geheimhalten"

 
Der NSU-Aktenskandal weitet sich aus: Der Bundesverfassungsschutz soll noch mehr brisante Akten vernichtet haben, als bislang bekannt.

"Wir erleben heute den möglicher Weise bis dato schlimmsten Fall von Aktenvernichtung und Nichtweitergabe von Informationen", so fasst der spürbar schockierte Grünen-Abgeordnete Wolfgang Wieland gegenüber tagesschau.de die jüngsten Erkenntnisse im Untersuchungsauschuss des Bundestages zusammen. Und in der Tat könnte der Skandal um die nicht-Weitergabe und Vernichtung von Akten noch eine neue Dimension annehmen.
 ]
Offenbar sind im Bundesamt für Verfassungsschutz nach dem Auffliegen der NSU-Terroristen noch mehr Akten vernichtet worden als bislang bekannt. Im Februar wurden Akteninformationen zu Thomas S. geschreddert. Er ist eine wichtige Figur in der rechtsextremen Szene. Der einstige Kopf des verbotenen Neonazi-Netzwerkes Blood & Honour soll zeitweise mit NSU-Mitglied Beate Zschäpe liiert gewesen sein. Er hatte Kontakt zu dem NSU-Trio - offenbar auch noch nach deren Abtauchen in den Untergrund. Schon im Jahr 2010 wurde die Personenakte zu Thomas S. gemäß der beim Verfassungsschutz üblichen Fristen gelöscht.

Akten aus datenschutzrechtlichen Gründen gelöscht

Im Zuge der Ermittlungen zum NSU-Trio begann der Verfassungsschutz, die in den gelöschten Akten enthaltenen Informationen zu rekonstruieren - in einer so genannten "Erkenntniszusammenstellung". Diese wurde dem Generalbundesanwalt übermittelt - nicht aber in dieser Form auch dem NSU-Untersuchungsausschuss. Eben diese Akte, die auch wichtige Informationen über Thomas S. und seine Verbindungen zum NSU-Trio enthielt, wurde im Februar im Bundesamt für Verfassungsschutz wieder gelöscht - aus datenschutzrechtlichen Gründen, wie das Bundesamt für Verfassungsschutz erklärte.

Der Grünen-Politiker Wieland zeigt sich empört, dass der Untersuchungsausschuss diese "Erkenntniszusammenstellung" nicht bekam. "Da ist leider auf der ganzen Linie eine Praxis des Geheimhaltens, Vertuschens und des Aktenschredderns festzustellen. Das ist absolut unmöglich." Möglicher Weise habe man Thomas S. "durch die Vernichtung von Akten schützen wollen".

 Berliner Landesbehörden hielten Informationen zurück

Eine weitere Aktenpanne wurde heute im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags bekannt. Der Unions-Obmann Clemens Binninger erklärte, beim Land Berlin habe sich ein Hinweis auf den Aufenthaltsort der drei NSU-Mitglieder aus dem Jahr 2002 gefunden. Der Generalbundesanwalt bestätigte der ARD, dass einer der 13 derzeit im NSU-Verfahren Beschuldigten zwischen 2001 und 2005 gegenüber der Polizei eines Bundeslandes insgesamt fünf Mal Angaben zur NSU gemacht habe.

Außerdem könnte einer der Beschuldigten als V-Mann für den Staatsschutz am Berliner Landeskriminalamt gearbeitet haben. Darüber sei das Gremium informiert worden, teilte der Ausschussvorsitzende Edathy mit. Noch liegt die Akte dem Ausschuss nicht vor.

Für den Grünen-Abgeordneten Wolfgang Wieland ist dies ein "weiterer Schock". Er warf den Landesbehörden der Hauptstadt vor, dem Ausschuss bislang keinerlei Unterlagen übermittelt zu haben. Seit Monaten erlebe der Ausschuss immer wieder, das Informationen zurückgehalten würden.

Verteidigungsminister de Maizière gerät unter Druck

Auch der politische Druck auf Verteidigungsminister Thomas de Maizière nimmt zu. In der "Bild"-Zeitung entschuldigte er sich dafür, den Untersuchungsausschuss nicht auf die Akte über den NSU-Terroristen Mundlos hingewiesen zu haben. "Das ärgert mich selbst am aller meisten. Wir hätten diesen Hinweis veranlassen müssen", so de Maizière. Er betonte jedoch auch, dass sich sowohl der Militärische Abschirmdienst MAD, der die Mundlos-Akte 1995 angelegt hatte, als auch das Verteidigungsministerium formal korrekt verhalten hätten.

Unions-Obmann Binninger rief in dem Fall zur Fairness auf. Der Ausschuss habe bereits im April einen Vermerk zu der MAD-Akte erhalten - "allerdings in einem Aktenberg aus den sächsischen Landesbehörden und ohne gesonderte Kennzeichnung". Deshalb hätten ihn die Abgeordneten nicht entdeckt. Ein Hinweis aus dem Verteidigungsministerium wäre hilfreich gewesen.

Grünen-Politikerin Claudia Roth kritisierte de Maizière scharf. Gegenüber tagesschau.de forderte sie indirekt den Rücktritt des Ministers: "Entweder fehlte dem Verteidigungsminister jede Sensibilität für die Brisanz der Information, oder de Maizière hatte einen konkreten Grund, weswegen er die Weiterleitung der Information nicht angeordnet hat. Beides wäre für einen Verteidigungsminister, der Verantwortung nicht nur für seine Behörde, sondern auch für die Bundeswehr und ihre Soldaten übernehmen muss, verheerend."

Wenig Erhellendes im Kiesewetter-Fall

Angesichts der neusten Berichte über Aktenpannen trat in den Hintergrund, was heute eigentlich auf der Tagsordnung des NSU-Untersuchungsausschusses stand: der Mord von Heilbronn. Am 25. April 2007 wurde dort die Polizistin Michèle Kiesewetter mit einem Kopfschuss getötet. Ein Kollege überlebte den Anschlag schwer verletzt. Der Leiter der zuständigen Sonderkommission, Axel Mögelin, konnte in seiner mehrstündigen Befragung vor den Ausschuss-Mitgliedern offenbar wenig Erhellendes liefern. CDU-Obmann Binninger stellte denn auch fest: "Das Geschehen bleibt bis heute rätselhaft."

Karl Nolle im Webseitentest
der Landtagsabgeordneten: