Karl Nolle, MdL

DER SPIEGEL 39 / 2012, Seite 41, 24.09.2012

Rechtsterrorismus - Codewort „Mutti"

 
In der Spitzel-Affäre um den mutmaßlichen NSU-Helfer Thomas S. wächst der Druck auf Berlins Innensenator. Wollten seine Mitarbeiter Akten zurückhalten?

Der letzte Akt der zehnjährigen V-Mann-Karriere des Thomas S. war nicht besonders feierlich — er dauerte gerade einmal zehn Minuten. Am vergangenen Sonntag reisten zwei Hauptkommissare des Berliner Landeskriminalamts (LKA) nach Sachsen und trugen S., früher Top-Quelle ihrer Behörde, eine finale Bitte vor: ob er sie von der Verschwiegenheit entbinden könne, die sie einst versprochen hatten?

Thomas S., 44, lehnte ab. „Ausdrücklich", so steht es im Protokoll der knappen Unterredung, bestehe er auf die „zugesicherten Vertraulichkeiten"; dies gelte für „alle Angaben", die er „jemals gegenüber dem LKA Berlin gemacht" habe.
Doch für Vertraulichkeiten" war es an jenem 1.6. September zu spät: Drei Tage zuvor war das Doppelleben der einstigen Neonazi-Größe aufgeflogen, die dem Berliner LICA von November 2000 bis Januar 2011 als Vertrauensperson (VP) Nr. 562 gedient hatte — und die seit Anfang des Jahres beschuldigt wird, die Zwickauer Terrorzel-le „NSU" unterstützt zu haben.

Erstmals seit dem Tod der Mörder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt bringt die Affäre um das Versagen der Sicherheitsbehörden nun einen amtierenden Innenminister in Bedrängnis. Berlins Innensenator Frank Henkel (CDU) steht unter Druck, weil das LKA 2002 wohl nicht nur wichtige Hinweise seines V-Manns für sich behielt. Bislang unbekannte interne Dokumente belegen auch, dass die Polizei den Fall offenbar dem Untersuchungsausschuss des Bundestags verschweigen wollte.

Dass die Berliner einen der Beschuldigten im derzeit wichtigsten Strafverfahren jahrelang als V-Mann geführt hatten, beichtete das LKA der Bundesanwaltschaft erst im März. Es folgten monatelange Verhandlungen, was mit den brisanten Informationen geschehen solle.

Zu den Hauptargumenten von Innen-senator Henkel, warum er den Untersuchungsausschuss nicht informierte, zählt die Behauptung, die Bundesanwälte hätten um Vertraulichkeit gebeten. „Meine Polizeiführung hat mir glaubhaft versichert, dass es eine Verabredung zwischen der Polizei und Karlsruhe gab", so Henkel. Die Details sollten „geheim gehalten werden, bis eine Gefährdung der V-Person sowie laufender Ermittlungen geprüft ist". Und Berlins Vize-Polizeichefin Margarete Koppers versicherte, es sei vereinbart worden, „weder von Seiten des Ge-neralbundesanwalts noch von Berliner Seite Informationen" herauszugeben.

Ein vertrauliches Schreiben von Staatsschutzchef Oliver Stepien dokumentiert dagegen, dass die Berliner wohl vor allem eines im Sinn hatten: dem Ausschuss die Geheimakten vorzuenthalten. So weigerte sich Henkels Chefermittler am 3. April ausdrücklich, den Bundesanwälten die Berichte zu ,,VP 562" zu übermitteln. Grund: „Bei Übersendung der Unterlagen" könne deren „Einsicht durch den Untersuchungsausschuss nicht ausge-schlossen werden".

Die Bundesanwaltschaft hatte dagegen schon früh erkannt, dass das Material an den Ausschuss gehen müsste. Am 29. März habe der zuständige Bundesanwalt, so Ste-pien, in einem Telefonat mitgeteilt, er gehe „sogar sicher davon aus, dass die Akten alsbald dem Untersuchungsausschuss vor-gelegt werden müssten". Für den Polizisten war das ein wichtiges Argument, das Dossier auch gegenüber der Bundesanwaltschaft zurückzuhalten. Dem „Wunsch auf Übersendung aller Akten" könne man „leider nicht entsprechen", schrieb er am 3. April. Am Ende waren Henkels Leute nur bereit, ein „Behördenzeugnis" zu übermitteln — in dem der Name S. nicht auftaucht. Der Ausschuss wurde erst im Juli durch die Bundesanwälte eingeweiht.

Der schonungslos offene Ton des Schreibens bringt den Innensenator in neue Erklärungsnot. Bislang hat Henkel, der persönlich seit dem 9. März mit dem Vorgang befasst ist und in der Öffentlichkeit mittlerweile wie „ein begossener Pudel" („FAZ") dasteht, stets beteuert, nichts verschleiert zu haben.

Doch war es wirkldich nur die Sorge um Leib und Leben der Vertrauensperson, die ihn und seinen Apparat umtrieben - oder wollten die Staatsschützer
mögliche eigene Versäumnisse verbergen?

Die V-Mann-Akte von Thomas S. birgt so manche Merkwürdigkeit: Bereits vier Tage nach seiner Anwerbung, am 21. November 2000, offerierte der Sachse dem LKA Informationen zur Neonazi-Szene in Chemnitz („Die sind dort wirklich klasse organisiert, dazu kann ich Euch auch einiges sagen"). Sein Angebot verhallte offenbar ungenutzt.

Ein Fehler, wie man heute weiß: Just jene Chemnitzer Szene war der erste Fluchtpunkt des Trios Böhnhardt, Mundlos und Beate Zschäpe. Hier, im Schutz klandestiner Neonazi-Strukturen, tauchten die Rechtsextremisten 1998 ab, bildeten ihren „Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU).

Und hätten die V-Mann-Führer ihre Quelle vor Anwerbung gründlicher überprüft, wäre ihnen womöglich aufgefallen,dass der vorbestrafte Rechtsextremist S. in den neunziger Jahren enge Kontakte zum Trio unterhalten hatte: Die Kollegen vom Thüringer LKA hatten S. — der zeitweilig mit Zschäpe liiert war — schon seit 1998 als mögliche Kontaktperson der Flüchtigen im Visier.

Die Berliner aber, so zeigen es die Akten, konzentrierten sich mit Tunnelblick auf andere Informationen ihres V-Manns, dessen Identität sie vor anderen Behörden abzuschirmen suchten. Da Thomas S. in einem Verfahren gegen die Neonazi-Band Landser in Sachsen als Beschuldigter geführt wurde, fürchteten sie, dass seine Telefone abgehört wurden. Zur konspirativen Kontaktaufnahme stellte das Berliner LKA S. deshalb eine „saubere" Handy-Karte auf den Decknamen „Dieter Müller" zur Verfügung; das LKA Sachsen wurde ausdrücklich nicht in Kenntnis gesetzt. Wenn die Berliner ihren V-Mann erreichen wollten, schickten sie ihm eine SMS, Losung: „Ruf Mutti an".

Tatsächlich lieferte "VP 562" zahlreiche Hinweise zu Neonazi-Konzerten und -Treffen. Im Februar 2002 ermöglichte S. dem Staatsschutz einen großen Fahndungserfolg. Er meldete einen mit Haftbefehl gesuchten Helfer der „Mykonos"-Attentäter, die 1992 einen Anschlag in Berlin verübt hatten. Mohammed A. sei illegal eingereist; S. lieferte sogar die Adresse von A.s Versteck in Berlin-Neukölln, die Ermittler nahmen ihn fest.

Dagegen versandeten Hinweise und Andeutungen zu dem untergetauchten Neonazi-Trio. Am Tag des Zugriffs in Berlin traf sich Thomas S. erneut mit seinen Kontaktleuten der Polizei. Diesmal wartete er mit Details zu Jan W. auf, dem Organisator des Vertriebs der Landser-CDs. Dabei erwähnte "VP 562" auch, dass W. zu „drei Personen aus Thüringen" Kontakt habe, die wegen Sprengstoffbesitz „per Haftbefehl gesucht werden".

Dass die Randbemerkung von S. — und Details bei weiteren Treffen — Hinweise auf das Trio waren, fiel den Fahnder offenkundig nicht auf. Heute heißt es beim LKA, man sei damals auf die rechtsextreme Musikszene konzentriert gewesen. Wie viel die Informationen wert waren, die S. nach eigenem Bekunden vom Hörensagen hatte, muss nun der Ausschuss klären. Demnächst soll auch Henkel aussagen.

Thomas S. hat inzwischen zugegeben, dass er der Zelle bis 1998 nahestand. Nach Auffliegen des NSU wurde er siebenmal vernommen, zuletzt am 7. August. Er beantwortete all jene Fragen, die ihm die Berliner offenbar nie gestellt hatten. S. räumte sogar ein, dem Trio vor Abtauchen rund ein Kilo TNT beschafft zu haben. Und er nannte Namen von Fluchthelfern und konspirativen Wohnungen, in denen sich die Neonazis versteckt hatten — ausgerechnet in Chemnitz.

Matthias Gebauer, Sven Röbel, Holger Stark

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