Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, 25.09.2012

„Ruf Mutti an“ - Der Dresdner Thomas S. hatte jahrelang Kontakt zum NSU-Terrortrio.

 
Mit Beate Zschäpe war er sogar zeitweise liiert. Gleichzeitig war er V-Mann der Polizei, und das sorgt nun für politischen Wirbel nicht nur in Berlin.

Der Schreck dürfte Thomas S. tief in die Glieder gefahren sein an jenem Mittwochmorgen. Es war der 25.Januar, als sich Polizei und Staatsanwaltschaft Zugang verschafften zu seiner Wohnung in einem Mehrfamilienhaus in Dresden-Naußlitz. Dort lebt er unauffällig mit seiner Lebensgefährtin und zwei Kindern. Der 44-Jährige arbeitete zuletzt als Flugzeugmechaniker in einer Dresdner Firma, die zu einem großen Dienstleister in Bayern gehört, der für die Luft- und Raumfahrtindustrie und das Verteidigungsministerium tätig ist. Für diesen Job musste sich Thomas S. extra einer Sicherheitsüberprüfung unterziehen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz, so berichtet es die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“, hatte offenbar keine Bedenken, dass der Sachse Zugang zu sensiblen und sicherheitsrelevanten Informationen erhält – trotz seiner schillernden Vergangenheit.

Der Mann mit der hellen Stimme, dem runden Gesicht und spärlichen Kopfhaar, hätte eigentlich mit der Razzia rechnen müssen – spätestens seit die Namen Beate Zschäpe, Uwe Mundlos, und Uwe Bönhardt unter der Bezeichnung „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) bundesweit für Schlagzeilen sorgten. Dem Terrortrio werden ein Sprengstoffanschlag, mehr als ein Dutzend Banküberfälle und zehn Morde zur Last gelegt, denen acht Türken, ein Grieche und eine deutsche Polizistin zum Opfer fielen. Thomas S. dürfte schon im November 2011 erschrocken sein, als all diese Straftaten bekannt wurden. Denn er war mit dem Trio vor vielen Jahren bestens bekannt. Sein Name steht auf einer Adressliste von Thomas Mundlos, die Polizisten im Januar 1998 bei einer Razzia in Jena fanden, wenige Stunden, bevor die drei Neonazis für vierzehn Jahre abtauchten.

Als das Terrortrio aufflog, rückten die alten Akten wieder in den Fokus der Ermittler, und es war nur eine Frage der Zeit, bis die Polizei bei Thomas S. auftauchen würde. Am 23.Januar 2012 hatte der Generalbundesanwalt gegen ihn Ermittlungen eingeleitet. Er wirft ihm vor, das NSU-Terrortrio unterstützt zu haben. Zwei Tage später standen die Beamten in aller Frühe vor der Tür. Nun holen Thomas S. jene alten Zeiten wieder ein, in denen er ein „großes Licht“ in der Chemnitzer Neonaziszene war, wie es Zeugen beschreiben. Nach der Durchsuchung vernahmen ihn Beamte im Landeskriminalamt mehrere Stunden lang.

Über all das reden möchte Thomas S. nicht. Eine schriftliche Interviewanfrage der SZ ließ er bisher unbeantwortet, am Telefon verleugnete sich der Dresdner mit der hellen Stimme vergangenen Freitag mit den Worten: „Den können Sie hier nicht mehr erreichen, der wohnt hier nicht mehr.“

Vor vierzehn Jahren war Thomas S. erster Anlaufpunkt für Zschäpe, Mundlos und Bönhardt, nachdem sie der Polizei in Jena entwischen konnten. Er beschaffte das erste Quartier in der Illegalität. Den Ermittlern schilderte er, wie die drei bei ihm nach einem „Pennplatz“ suchten, weil sie eine Zeitlang „weg müssten“, wie es Mundlos damals formuliert haben soll. Am Ende eines ersten Vernehmungsmarathons im Landeskriminalamt gab ThomasS. auch zu, dass er den dreien vor ihrem Abtauchen etwa ein Kilo des Sprengstoffs TNT besorgt hatte. Deswegen ist er bis heute einer von derzeit 13 Beschuldigten im NSU-Ermittlungsverfahren. Dass er angeklagt wird, ist jedoch eher unwahrscheinlich, diese Taten dürften verjährt sein.

Seit einigen Tagen ist Thomas S. nun noch einmal in den Schlagzeilen. Denn der mutmaßliche NSU-Helfer hat auch eine Karriere als Polizeiinformant. Von 2000 bis 2011 hat ihn das Berliner Landeskriminalamt unter Nummer „VP 562“ als Vertrauensperson (VP) geführt. Bei seinen Kontakten soll der Sachse mehrere Hinweise zum Terrortrio gegeben haben. Doch diese Tipps fanden keine Beachtung und sollten offenbar im Zuge der NSU-Ermittlungen gar nicht erst bekannt werden.

Das fällt inzwischen dem Berliner Innensenator Frank Henkel (CDU) auf die Füße. Er kannte eigenen Angaben zufolge seit Monaten die V-Mann-Karriere des Thomas S. Doch er leitete sein Wissen nicht an den Berliner NSU-Untersuchungsausschuss weiter. Angeblich hatte die Bundesanwaltschaft darum gebeten. Doch die Ermittler in Karlsruhe bestreiten das. Nun schieben sich die Behörden gegenseitig den Schwarzen Peter zu, und die NSU-Aufklärer im Parlament wittern ein weiteres Mal Vertuschung. Stellt sich heraus, dass der Innensenator gelogen hat, könnte die Causa Thomas S. in der NSU-Affäre erstmals einen Minister das Amt kosten.

Der 1967 in Karl-Marx-Stadt geborene Thomas S. wuchs bei seiner Mutter auf, von seinem Vater weiß er nicht viel mehr als den Namen. Der Vater stammte aus Griechenland und lebte als Vertragsarbeiter zeitweilig in der DDR. Nach der 10. Klasse machte Thomas S. bei der Bahn eine Lehre als Fahrzeugschlosser, jobbte danach als Maschinenbauer, Dachdecker und war auch mal selbstständig und Hausmeister. Im einzigen Interview, das er bisher gegeben hat, bestätigt Thomas S. der „Welt am Sonntag“, dass er schon in der DDR der für politische Straftaten zuständigen Polizeiabteilung K1 als Informant gedient hatte. Damals habe er bei den „Satan Angels“ mitgemacht, einer „negativ dekadenten“ Fangruppe des Fußballoberligisten FC Karl Marx Stadt, wie es die Stasi nannte.

Über die Skinheadmusik ist Thomas S. offenbar in die rechte Szene abgedriftet. Bei einer Party mit der Naziband „Oithanasie“ 1991 oder 1992 – genau weiß er es selbst nicht mehr – lernte er Uwe Mundlos und Beate Zschäpe kennen, später auch Uwe Bönhardt. In jener Zeit machte Thomas S. in Chemnitz bei den „88ern“ mit. Gemeint ist „Chemnitz Concert 88“, kurz „CC 88“, eine Gruppe von Hooligans und Neonazis, die sich insbesondere durch die Organisation von Skinheadkonzerten hervortat. Mehrmals kam der Neonazi damals mit dem Gesetz in Konflikt. Gerichte verurteilten ihn zwischen 1993 und 1999 unter anderem wegen Beihilfe zu schwerer Brandstiftung, Landfriedensbruchs und gefährlicher Körperverletzung. Er hatte sich zum Beispiel betrunken mit Bundeswehrsoldaten geprügelt. Als er im Knast saß, betreuten ihn die drei Thüringer, besuchten ihn im Gefängnis, schickten Fotos, unterschrieben ihre Briefe mit „Deine drei Jenaer“.

Nachdem Thomas S. zwei Drittel seiner Haft abgesessen hatte, entlassen wurde und ohne Freundin war, begann er Ende 1996 mit Beate Zschäpe ein „Techtelmechtel“, wie er es nennt. Sie sei anders gewesen als die „szenetypischen Mädels mit abrasierten Haaren“. Das habe ihn fasziniert, erzählte er der „Welt am Sonntag“. Gefunkt habe es bei einer Party in Chemnitz, aber es war nur eine Affäre, keine echte Beziehung, nicht mal einen Kuss in der Öffentlichkeit habe die Beate geduldet.

Die politische Gesinnung zeigte man dagegen schon mal gemeinsam. So am 1. November 1996 in der KZ-Gedenkstätte Buchenwald, wo die drei Jenaer Neonazis und Thomas S. Hausverbot erhielten, weil ein Teil der Gruppe in uniformähnlicher Nazimontur aufmarschiert war.

Beate Zschäpe habe immer nur die beiden Uwes im Kopf gehabt, die seien stets dabei gewesen. Deshalb war wenigen Monaten wieder Schluss. Die Jenaer seien viel politischer drauf gewesen, die hätten nicht nur Musik hören und Spaß haben wollen, erzählte Thomas S. den Ermittlern. Weil er Beate Zschäpe imponieren wollte, habe er auch den Sprengstoff besorgt, als Mundlos ihn danach gefragt habe. Das TNT hatte sich der Chemnitzer von einem anderen Neonazi aus Ostsachsen besorgt. Es wurde am 26. Januar 1998 in einer Garage in Jena gefunden und veranlasste die drei Bombenbastler dazu unterzutauchen. Dass mit dem Sprengstoff kein Schaden angerichtet werden konnte, lag möglicherweise nur daran, dass Thomas S. die notwendigen Zünder nicht mitgeliefert hatte.

Zeugen sagen, dass Thomas S. Ende der 1990er-Jahre eine Größe in der Chemnitzer Neonaziszene war. Er galt als Nummer zwei in der sächsischen Sektion des rechtsextremistischen „Blood&Honour“-Netzwerkes. Nummer eins war Jan W., der ebenfalls beschuldigt wird, das NSU-Trio unterstützt zu haben. Ohne die beiden lief nichts in Chemnitz. Sie organisierten Konzerte, betrieben Plattenlabels und vertrieben szenetypische Devotionalien. Im Jahr 2000 sollte die CD „Ran an den Feind“ der Naziband „Landser“ ein gutes Geschäft werden. Mit 9000 D-Mark kaufte sich Thomas S. quasi in die Produktion ein. Er sollte die Scheibe vertreiben, die später wegen ihrer strafbaren Inhalte auf dem Index landete.

Doch der Staatsschutz bekam Wind von der Produktion. Verfassungsschützer hatten „Blood&Honour“ und Thomas S. im Visier, und am 13. November 2000 kreuzte die Polizei bei ihm auf. Ab dem 16. November 2000 wurde S., der inzwischen in Dresden lebte, beim Berliner Landeskriminalamt unter der Nummer „VP 562“ als Informant geführt und erst im Januar 2011 „abgeschaltet“. Medienberichten zufolge erhielt er den Decknamen „Dieter Müller“, eine separate Handykarte und wurde mit der SMS „Ruf Mutti an“ zu seinen Treffs beordert. Im Verfahren gegen die „Landser“ hat er umfangreich ausgesagt. Da waren seine Informationen so gewichtig, dass ihm ein Freund der Rechtsrocker auf die Pelle rückte und mit Bestrafung drohte, falls er seine Aussage nicht zurückziehe. Die Bandmitglieder wurden dennoch verurteilt. Der Prügelnazi auch.

Thomas S. musste sich wegen der Landser-CD weniger Sorgen machen. 2003 tauchten LKA-Ermittler aus Thüringen und Sachsen bei ihm auf, um sich nach Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe zu erkundigen. Es sei eine Belohnung drin, und das Landser-Verfahren sei „kein Problem“, sollen die Beamten gesagt haben. Es folgte 2005 eine Verurteilung wegen Volksverhetzung zu zehn Monaten Haft auf Bewährung. Damit war die V-Mann-Tätigkeit des Thomas S. nicht gefährdet. Ob es dazu Absprachen zwischen den Behörden gegeben hat, ist derzeit unbekannt. Zuvor hatten auch Sachsens Verfassungsschützer Kontakt zu Thomas S. aufgenommen. Aber das Gespräch habe „keine Minute“ gedauert, erzählte er der „Welt am Sonntag“. Ein Vorgang, den die Behörde dem NSU-Untersuchungsausschuss in Dresden bisher verschwiegen hat, was nun auch in Dresden zu politischen Turbulenzen führen könnte.

Bisher ist unklar, was Thomas S. an Informationen zum untergetauchten NSU-Trio geliefert hat und hätte liefern können, wenn er gezielt dazu befragt worden wäre. Auch was er von ihren Straftaten weiß, ist nicht bekannt. So wurde dem Verfassungsschutz bekannt, dass der Thüringer Sektionschef von „Blood&Honour“ Thomas S. im November 1999 eine Geldspende für die Untergetauchten angeboten haben soll. Dieser habe nur geantwortet, dass die „Drillinge“ kein Geld mehr bräuchten, denn sie würden jetzt „jobben“. Wusste er, dass Mundlos und Böhnhardt begonnen hatten, das Geld für ihr Leben in der Illegalität mit Banküberfällen zu erbeuten? Zu diesem Zeitpunkt hatten die beiden Neonazis bereits zwei Sparkassen in Chemnitz überfallen. Im Februar 2002 erzählte Thomas S. seinem Kontaktmann, dass man seinen einstigen Kameraden Jan W. fragen müsse, wenn man die drei aus Thüringen suche. Bis heute ist unklar, ob und wie dem Hinweis nachgegangen wurde.

Seinen eigenen Angaben zufolge ist Thomas S. schon 2001 aus der Szene ausgestiegen. Jene Zeit sei ein Teil seines Lebens gewesen, den er nicht mehr rückgängig machen könne, sagte er der „Welt am Sonntag“. Als am 4. November 2011 die Terrorzelle aufflog, holte ihn dieser Lebensabschnitt allerdings wieder ein. Ausgerechnet an seinem 44. Geburtstag.

Von Thomas Schade

Karl Nolle im Webseitentest
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