Karl Nolle, MdL

DNN/LVZ, 22.02.2013

Warum wurde Thüringen zum Aufmarschland für Neonazis?

 
Zwischenbericht zum NSU-Ausschuss listet Behörden-Versagen auf / LVZ liegen erste Auszüge vor
 
Erfurt. Es ist ein Kompendium des Versagens und Wegschauens: Am kommenden Donnerstag legt der Thüringer Untersuchungsausschuss zum Neonazi-Terror seinen ersten Zwischenbericht vor. Die LVZ konnte bereits einen ersten Blick hineinwerfen.

Auf über 500 Seiten werden mehr als 50 Befragungen von Zeugen minutiös dokumentiert, die seit der ersten Sitzung des Ausschusses vor genau einem Jahr erhellen sollten, welche Rolle die Sicherheits- und Justizbehörden in Thüringen gespielt haben. Es ist eine unrühmliche. "Der Tenor: Das Problem wurde unterschätzt. Es gab Mahner, aber sie wurden nicht gehört. Gleichzeitig hat es strukturelle Defizite gegeben", sagt die Ausschussvorsitzende Dorothea Marx (SPD). Die Landtagsabgeordneten haben sich bislang auf den Zeitraum bis 1998 konzentriert, also bevor das Terrortrio um Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt nach der verpatzten Razzia in Jena abtauchte.

Der Ausschuss untersuchte die Herausbildung der rechtsterroristischen Strukturen in den 1990er-Jahren, also den Nährboden, auf dem das Trio entstehen konnte. In dem Bericht, der der LVZ in Auszügen vorliegt, ist von "Alltagsrassismus" die Rede. In Jena etwa wurde 1992 in einer normalen Diskothek eine "Weiße Nacht veranstaltet". Die Zahl rechtsextremer Straftaten explodierte: von 219 im Jahr 1993 auf über 1200 vier Jahre später. Das meiste betrifft Propaganda-Delikte, also das öffentliche Zeigen verbotener Symbole.

Thüringen avancierte, das belegt der Bericht eindrucksvoll, zum Aufmarschland von Neonazis aus ganz Deutschland. Traurige Höhepunkte waren die jährlichen Rudolf-Heß-Geburtstage sowie Rechts-Rockkonzerte wie das "Fest der Völker". Innerhalb weniger Jahre verdoppelte sich die Zahl der Neonazis auf 1500 zur Jahrtausendwende.

Eine der Hochburgen war Ostthüringen, wo die Kameradschaft Jena zwischen 1996 und 1998 mit mehreren Bombenattrappen für Schlagzeilen sorgte. Ihr Anführer hieß damals André Kappke, seine Stellvertreter waren Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos. Der Bericht spricht von einer "Kultur des Wegsehens" von Teilen der staatlichen Stellen. Gleichzeitig aber auch von einem desolaten Zustand der Sicherheitsbehörden, fehlender Fachkenntnis und Ausrüstung.

Der ehemalige Innenminister Richard Dewes (SPD) gab an, dass sich der Polizeiapparat in seiner Amtszeit von 1994 bis Ende 1999 noch im Aufbau befunden habe und 90 Prozent aus ehemaligen Volkspolizisten bestand, die erst fortgebildet werden mussten. Es haperte auch an der Zusammenarbeit mit dem Chef des Landeskriminalamts Uwe Kranz, der vor einer "Braunen-Armee-Fraktion" in Thüringen warnte - und am Ende dafür gehen musste. Dewes hat, auch das wird deutlich, nur die Symptome des Rechtsextremismus bekämpft. Er wollte die Demonstranten von der Straße haben, aber gegen die Ursachen ging er nicht vor.

Dem Untersuchungsausschuss liegen über 5000 Akten vor. Zuerst vom Innenministerium ausgebremst, setzte ab Sommer ein regelrechter Aktentsunami ein. Dorothea Marx lobt den "Bewusstseinswandel". Selbst Klarnamen von V-Leuten und ungeschwärzte Akten seien kein Problem mehr. Allerdings konnte nur ein Teil der Akten bislang tatsächlich ausgewertet werden. Das liegt teilweise daran, dass noch immer nicht alle Mitarbeiter von den Behörden als vertrauenswürdig eingestuft wurden. Unklar ist außerdem, ob noch etwas fehlt.
 
Sie sei bisweilen auf Deckblätter ohne Inhalt gestoßen, erzählt Marx. Dies kann durch Um- und Aussortieren von Akten geschehen sein, aber ob Schredder-Aktionen wie in Berlin erfolgt sind, könne niemand ausschließen. "Wir haben keine Belege, dass noch etwas vernichtet wurde, aber wir wissen es nicht", sagt Marx. In den kommenden Monaten will sich der Ausschuss nun der Zeit nach 1998 und der Verfolgung des Neonazi-Trios widmen. Dabei können sich die Parlamentarier auf die Vorarbeit des Bundestags-Untersuchungsausschusses stützen. Parallel soll in wenigen Wochen in München der Prozess gegen Beate Zschäpe und den Thüringer Ralf Wohlleben, Ex-NPD-Funktionär und mutmaßlicher Helfer des Trios, beginnen.

Von Robert Büssow

Karl Nolle im Webseitentest
der Landtagsabgeordneten: