Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, 02.10.2015

Als Dresden „Hauptstadt der Bewegung“ war

 
Im Kulturzentrum „Scheune“ erinnern sich Dabeigewesene an Neonazi-Umtriebe vor und nach 1989. Von Oliver Reinhard

Hunderte Neonazis marschieren im April 1992 in Dresden auf. Sachsens Landeshauptstadt galt damals als Hochburg der Rechtsextremen.

Halt mal kurz! Mit diesen Worten übergibt der Bassist einer Punkband mitten während des Konzerts in der voll besetzten Dresdner Martin-Luther-Kirche sein Instrument an einen Kumpel und verlässt das Gotteshaus. Ein paar Minuten später kehrt er zurück, schnappt sich seinen Bass, spielt weiter. Was die Bandkollegen gar nicht mitbekommen haben: Vor der Kirche hatten ein paar Dutzend Skinheads Konzertbesucher angegriffen, konnten aber zurückgeschlagen werden. So erinnert sich der Ex-Punk und Musiker Marian an den Abend des 6. Mai 1989.

Die Neonazi-Attacken – kurz darauf erfolgte noch eine zweite vor der Lutherkirche – waren besondere, aber keine Einzelfälle. Darin sind sich alle Zeitzeugen einig, die am vergangenen Dienstagabend der Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung ins Kulturzentrum „Scheune“ gefolgt sind. „Hauptstadt der Bewegung“ heißt die Veranstaltung hübsch provokant. Oral History soll es geben; erzählte und debattierte Historie, Reflexionen über die Geschichte von Neonazismus und Rechtsextremismus im Osten, die nicht erst, wie manche immer noch behaupten, 1989 eingesetzt hat.

Mehrere Dabeigewesene wechseln sich an den Mikrofonen ab, ergänzen sich, widersprechen einander, es geht lebendig zu und teil-anonym, wie bei Marian. Vorsichtshalber spricht man sich nur mit Vornamen an und bittet die Berichterstatter um Diskretion. Was man zu Zeiten, in denen der Aufruf „Merkt euch die Namen!“ nicht nur unter rechtspopulistischen Montagsspaziergängern kursiert, gerne gewährt.

Schon Nazi oder noch Subkultur?

Um den Anekdoten analytische Bodenhaftung zu verschaffen, ist Historiker Harry Waibel mit an Bord, seit vielen Jahren einer der besten Kenner von Geschichte und Gegenwart des Rechtsextremismus. Für die späte DDR hatten schon 1988 Ostberliner und Leipziger Soziologen die Szene auf ungefähr 15 000 Mitglieder beziffert. Weibel ergänzt das um weitere Zahlen: „Seit 1945 kam es zu 8 000 rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten, 7 000 davon waren neonazistisch. 1975, als die ersten ,Vertragsarbeiter‘ aus sozialistischen Bruderländern kamen, begann der Rassismus in der DDR.“ Was die Rechten einte, war ihr Hass aufs immer weiter verkommende SED-System. Man darf vermuten: Je weiter sie sich distanzieren wollten, desto intensiver gaben sie sich braun statt rot.

Zumindest in Teilen widerspricht der ebenfalls dabei gewesene Johannes den waibelschen Ausführungen. Vorfälle wie die Attacke auf die Lutherkirche oder 1985 der ausländerfeindliche Aufmarsch von 150 Leuten am damaligen Fucikplatz seien „nicht alle durchweg neonazistisch motiviert gewesen. Die Basis war eher eine subkulturelle Antihaltung, man wollte sich eben möglichst deutlich abgrenzen von dem FDJ-Einheitsbrei.“

In einem aber sind sich alle Erinnerer einig: Hatten sich lange Zeit rechte und linke Subkulturgänger – die sich oft schon aus der Schule kannten – zwar immer wieder gedisst und auch mal geprügelt, sei es erst ab Mitte der Achtziger und insbesondere ab 1989 zur zunehmenden Radikalisierung der rechten Szene in Dresden und der DDR gekommen. „Vorher hatte man noch die Wahl, ob man sich eher rechts oder links verortet“, sagt Johannes. „Dann aber wurde man gezwungen, sich zu entscheiden.“

Der erste Beschleunigungsfaktor dürfte die offenkundige Wahlfälschung im Mai 1989 gewesen sein. Der andere war der Mauerfall, nach dem die erfahrenen Nazis aus dem Westen ihren Kameraden aus dem Osten auch organisatorisch auf die marschbereiten Beine halfen. „Ganze Kleinstädte und Dörfer sind damals umgeklappt. Vorher waren die Jugendlichen zur einen Hälfte links und zur anderen rechts“, erzählt Antje. „Aber auch die Punks sind eines Morgens als Nazis aufgewacht. Nicht zu vergessen viele Metal-Fans. Das hatte bestimmt mit dem aufkeimenden gesamtdeutschen Nationalgefühl zu tun. Das hat den Rechten Auftrieb gegeben.“

Als die West-Nazis in den Osten kamen, wunderten sie sich nicht schlecht, welch blühende braune Landschaften sie hier vorfanden. Seit 1990 waren Überfälle auf Linke und Ausländer in Dresden fast an der Tagesordnung. Immer wieder kam es zu Angriffen auf Klubs, vor allem im „Zeckenviertel“ Neustadt. „Klar haben wir uns gewehrt“, sagt Ex-Punk Marian und ergänzt leicht amüsiert: „Aber die Rechten waren immer mehr als wir.“ Anfang der Neunziger hatte sich der Ruf Dresdens als „Hauptstadt der Bewegung“ bundesweit herumgesprochen. Bis es Mitte des Jahrzehnts langsam stiller wurde. Aber nicht für immer.

Sie waren niemals weg

Seit einem Jahr gibt es in Dresden „zum ersten Mal seit 1945 wieder eine rechte Massenbewegung“, sagt Historiker Harry Waibel über Pegida. „So etwas gab es nicht einmal kurz nach der Wende, nicht in dieser Konstanz“, erinnert sich Jan. „Und wenn ich bei Pegida vorbeischaue, dann sehe ich bei denen viele der Neonazis von damals. Sie sind wieder da.“

Noch zutreffender müsste es wohl heißen: Sie sind niemals weg gewesen.

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