Karl Nolle, MdL

taz.de, 03.09.2018

Linke Sammlungbewegung vor dem Start - Aufstehen – und dann

 
Am Dienstag stellt Sahra Wagenknecht ihre Bewegung „Aufstehen“ vor. Was will die Gruppe? Und wer macht mit?

von Martin Reen und Stefan Reinicke

MESERBERG/BERLIN taz | Es ist einer der letzten heißen Sommertage in Brandenburg. Das Dorf Meseberg samt Regierungsgästehaus liegt verlassen in der Mittagshitze. Bernd Stegemann ist für das Interview mit der taz von seinem Urlaubsort am nahen Stechlinsee gekommen. Der taz-Fotograf lässt ihn zwischen Bäumen und vor einem alten Schuppen posieren. Stegemann fühlt sich sichtlich unwohl, am liebsten würde er abbrechen. Er sei nicht umsonst Dramaturg statt Schauspieler geworden, sagt er.

Stegemann gilt neben dem Soziologen Wolfgang Streeck und dem Publizisten Wolfgang Engler als Spiritus Rector der Sammlungsbewegung „Aufstehen“ von Sahra Wagenknecht, die am kommenden Dienstag starten soll. „Es geht nicht fair zu: nicht in unserem Land und auch nicht auf der großen Bühne der Weltpolitik. Dagegen stehen wir auf: für Gerechtigkeit und sozialen Zusammenhalt, für Frieden und Abrüstung“, heißt es in einem Aufrufentwurf von August.

Linkspartei-PolitikerInnen aus dem Umfeld von ­Wagenknecht sind dabei, einzelne SPD- und Grünen-Politiker, Künstler und Intellektuelle. Es ist die erste Bewegung, lästern Kritiker, die statt auf der Straße in der Bundespressekonferenz gegründet wird.

Ihn ärgere die Doppelmoral des grünen Milieus, sagt Stegemann, als wir auf der Terrasse des Restaurants sitzen. „Auf der einen Seite setzt man bestimmte moralische Maßstäbe in die Welt, und auf der anderen Seite vermeidet man, für die Konsequenzen die Verantwortung zu übernehmen.“ In den Theatern, wo er arbeite, seien die meisten für unbegrenzte Zuwanderung. „Aber sobald es darum geht, die eigenen Kinder einzuschulen, sieht man zu, dass man eine Schule mit möglichst geringem Anteil von migrantischen Kindern findet.“

Die Zuwanderungsfrage müsse „deutlich sachlicher behandelt werden – nicht im Ton der Dauerempörung“, sagt Stegemann. Und die öffentliche Debatte müsse sich mehr um die klassischen sozialen Themen drehen.

Gestrichene Fragen und Antworten im Interview

Stegemann, 51 Jahre alt, ist ein Intellektueller, der sich erst spät im Leben in die Politik und Öffentlichkeit begibt. Er ist kein Politikprofi – wie auch?

Das Gespräch dauert über eine Stunde. Das verschriftlichte Interview, das ihm zwei Tage später zum Gegenlesen zugeht, hat zwei heikle Stellen: Einmal mokiert sich Stegemann über Jakob Augstein. Der Freitag-Chefredakteur ist einer der wenigen Publizisten, die die Sammlungsbewegung in Artikeln befürwortet haben – ein wichtiger Verbündeter, den man besser nicht vergrätzt. Außerdem weiß Stegemann nicht recht, was die Seebrücke-Demonstrationen sind, die die Seenotrettung von Flüchtlingen im Mittelmeer durch Freiwilligenorganisationen unterstützen.

Zwei Tage später bekommt die taz das Interview zurück; gestrichen sind nicht nur die heiklen Antworten, sondern auch die Fragen der taz. Ein klarer Verstoß gegen die übliche Autorisierungspraxis. Auch ein Anruf hilft nicht: Eine Autorisierung des Interviews gibt es nur, wenn diese Fragen fehlen. Die taz verzichtet deshalb auf den Abdruck, verwendet in diesem Text aber einige der genehmigten Zitate.

Die Sammlungsbewegung scheint nervös zu sein. Aus gutem Grund: Wohin die Bewegung – eine Art Attac von oben – will, ist ziemlich vage. Auch was aus ihr wird: Wie viele werden kommen? Was wird die Bewegung konkret tun? Wie groß wird der Einfluss von Sahra Wagenknecht sein? Ist die Sammlungsbewegung ein Mittel im innerparteilichen Machtkampf der Linkspartei? Oder gar der Funke, der zu einer Explosion führt, die Wagenknecht von der Partei wegsprengt? Und kann sie AfD-Protestwähler zurückholen, ohne Ressentiments zu bedienen? Vieles ist unklar.

Vielleicht entfernen deshalb die einen unangenehme Fragen, während andere gar nicht reden wollen oder können. Mitten im Sommer ging die Website von „Aufstehen“ online, Prominente schrieben im Spiegel und anderen Zeitschriften Artikel für eine Sammlungsbewegung. Es waren Man-sollte-mal-Texte, keine konkrete Unterstützung für das Wagenknecht-Projekt.

Zu den Unterstützern gehört die frühere Grünen-Abgeordnete Antje Vollmer. Sie will aber nichts Konkretes dazu sagen. „Bin gerade im Urlaub. Dazu in netzferner Gegend. Sorry, Freundliche Grüße“, schreibt sie. Marco Bülow, linker SPD-Bundestagsabgeordneter, gilt ebenfalls als Sympathisant. Er ist im Unterstützerkreis der einzige aktive Parlamentarier, der nicht zur Linkspartei gehört – und meldet sich nicht auf die Anfrage der taz. Beim ersten Liveauftritt der Bewegung am 4. September ist Bülow auch nicht dabei. Termine in seinem Wahlkreis sind wichtiger.

Viele Unterstützer, aber fast keiner will reden

Norbert Klaes, SPD-Ortsbürgermeister im rheinland-pfälzischen Friesenhagen, reagiert weder auf Anrufe noch auf eine Mail. In einem Video auf der „Aufstehen“-Website läuft er in Zeitlupe durch die Wiesen des Westerwalds, sinniert über Politikverdrossenheit und fordert zu mehr kommunalpolitischem Engagement auf. Was das mit Wagenknechts sozialen Themen zu tun hat, hätte man ihn gern gefragt. Auch ein Gespräch mit Wagenknecht selbst kommt nicht zustande.

Ludger Volmer, früher mal Chef der Grünen und Staatsminister im Auswärtigen Amt unter Joschka Fischer, wird am kommenden Dienstag neben Wagenknecht die Bewegung in Berlin präsentieren. Volmer sagt erst ein Gespräch für diesen Text zu, dann kurzfristig wieder ab. Die Sammlungsbewegung ist auf Tauchstation.

Immerhin, Wolfgang Engler redet. Engler, 66 Jahre alt, drahtig, immer schwarz gekleidet, war bis 2017 Rektor der Ernst-Busch-Schauspielschule. Er wohnt im Prenzlauer Berg und ist einer der wenigen Ostintellektuellen, die in den vergangenen Jahren hörbar in den großen Debatten mitmischten. Früher war er mal vehementer Fürsprecher eines bedingungslosen Grundeinkommens. Im Frühjahr hat er mit Stegemann Wagenknecht getroffen, später waren auch Wolfgang Streeck, Oskar Lafontaine und der Schriftsteller Eugen Ruge dabei. Engler, ein freier, undogmatischer Geist, kannte Wagenknecht vorher nicht. Nun unterstützt er „Aufstehen“.

Warum? Als einen Grund nennt er den Herbst 2015. Damals habe es „moralische Belehrungen und Sprechverbote gegeben“, sagt Engler. Gerade im Theater. Kritik an der Flüchtlingspolitik galt schnell als rassistisch. „Diese Sprachpolitik kennen Ältere noch aus der DDR. Das hat viele im Osten zur Weißglut getrieben, mich auch.“

Die Linkspartei hat bei den Bundestagswahlen 2017 im Westen und in städtischen, akademischen Milieus gewonnen, aber in der Provinz im Osten eine Million WählerInnen verloren, auch an die AfD. Diese Menschen, findet Engler, dürfe die politische Linke nicht aufgeben. Anfang 2018 hat er lange mit Klaus Lederer, dem linken Berliner Kultursenator, diskutiert. Lederer und die urbane Linke, die sich für Minderheitenrechte und „Refugees welcome“ engagieren, „haben keine Antwort auf den Schwund im Osten“, sagt Engler. Die Sammlungsbewegung, hofft er, könne das ändern.

Engler formuliert abwägend, die reißerische Formel ist nicht seine Sache. Die Linke müsse „das Soziale wieder mehr betonen“, Identitäts- und Minderheitenpolitik hätten zu viel Gewicht bekommen. Aber natürlich gelte es, die Emanzipationserfolge, die nach 1968 errungen wurden, zu bewahren. Die Sammlungsbewegung sei „nur interessant, wenn sie den Bogen schlägt und Soziales und Minderheitenpolitik verbindet“. Beim Versuch, zur AfD Abgewanderte zurückzugewinnen, dürfe die Bewegung „kein Frustverstärker“ sein, sagt Engler. Sie müsse vielmehr die „massive Unzufriedenheit entgiften“.

In der SPD gibt es jetzt Unruhe wegen der Bewegung

Die verschiedenen Fassungen des „Aufstehen“-Aufrufs sind im Laufe der Monate immer ausgewogener geworden – wohl auch wegen des mäßigenden Einflusses von Engler. Reizwörter, die mit Ressentiments aufgeladen werden könnten – Identität, Heimat, schroffe Anklagen gegen Linksliberale –, fehlen. „Ich würde auch Lederer oder Kipping unterstützen, wenn sie das Soziale stärker in den Vordergrund rücken“, sagt Engler.

In der SPD gibt es jetzt Unruhe wegen der Bewegung. Am Dienstag wird auch die Flensburger Oberbürgermeisterin ­Simone Lange „Aufstehen“ in der Bundespressekonferenz präsentieren. Vor einigen Monaten hat sie das Establishment der SPD schon einmal provoziert. Im ­April 2018 wollte sie SPD-Chefin werden und trat gegen Andrea Nahles an. Lange sagte auf dem Parteitag: „Ich möchte mich bei den Menschen für Hartz IV entschuldigen.“ Sie war bei der Rede nervös, eher vorsichtig als aggressiv. Die krasse Außenseiterin bekam immerhin 27 Prozent. Die linke, basisnahe Frau, die weiß, wovon sie redet – so hat Lange sich inszeniert. Das passt zum „Aufstehen“-Image.

Ralf Stegner, SPD-Chef in Schleswig-Holstein und Parteilinker, ist wenig begeistert von Langes Engagement. „Es ist nicht klug, sich einer Sammlungsbewegung unter Führung von Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine anzuschließen“, sagt er. Die ganze Bewegung sei „bis jetzt eine PR-Aktion für Lafontaine und Wagenknecht“. Wenn sich Sozialdemokraten dafür einspannen ließen, zeige das „mangelndes sozialdemokratisches Selbstbewusstsein“. Und: „Was Frau Lange tut, nutzt der SPD nicht.“

Noch heftiger sind die Zweifel in der Linkspartei. Dort mischt nicht nur eine Kommualpolitikerin wie Lange mit, sondern die populärste Figur der Partei. Viele GenossInnen haben auch ohne Sammlungsbewegung ein gespanntes Verhältnis zu der Fraktionschefin. Sahra Wagenknecht fühlt sich in Talkshows wohler als auf Parteitagen und ignoriert gern die Beschlusslage in Migrationsfragen.

Bei den GenossInnen rätseln nun viele, was Wagenknecht mit der Sammlungsbewegung will. „In der Partei sind viele verunsichert“ sagt Katina Schubert, Landeschefin in Berlin, die „Aufstehen“ skeptisch sieht. Die Linkspartei regiert in Berlin mit SPD und Grünen. Die Umfragen sind gut, Klaus Lederer ist der beliebteste Politiker in Berlin.

Die GenossInnen haben sich in der Hauptstadt das Image erarbeitet, weltoffen und linksliberal zu sein – sie sehen diesen Erfolg durch Wagenknechts Migra­tionsskepsis gefährdet. „Damit versucht eine führende Parteipolitikerin, die in ihrem eigenen Laden in migrationspolitischen Fragen nicht mehr mehrheitsfähig ist, die Linkspartei unter Druck zu setzen“, sagt Schubert.

Wird aus dem Projekt eine Partei?

Manche misstrauen auch Sahra Wagenknechts Beteuerung, keine neue Partei gründen zu wollen. Noch Anfang 2018 hatte sie gesagt: „Ich wünsche mir eine linke Volkspartei.“ Später dementierte sie heftig, mit ihrer Sammlungsbewegung eine neue Partei im Visier zu haben. Sevim Dagdelen, Vizefrak­tionschefin und eine der wenigen Vertrauten von Wagenknecht, sagte kürzlich, dass „Aufstehen“ die Parteien umkrempeln wolle, um wieder Wahlen zu gewinnen. „Wenn wir damit Erfolg haben, braucht es keine neue Partei.“

Das heißt umgekehrt aber auch: Falls „Aufstehen“ SPD, Grüne und Linkspartei nicht nach ihrem Gusto umkrempelt, gibt es doch eine neue Partei. Aus dem Projekt, so auch Wolfgang Englers Eindruck, „kann mittelfristig eine Partei werden“. Das hänge wohl auch davon ab, wie es mit Wagenknecht und der Linkspartei weitergehe.

Katja Kipping, 40, sitzt Mitte August in einem Café in Kreuzberg, weißes Jackett, dezente Eleganz. Die Parteichefin wirkt ausgeruht. Sie war in Australien, in Gegenden, wo es kein Internet gab. Weit weg von dem erbitterten linken Familienstreit, in dem man sich wer weiß was an den Hals wünscht und immer mit dem Vornamen anredet. Und weit weg von den Zeitungstexten über den Krieg zwischen ihr und Wagenknecht.

Beunruhigt sie es nicht, wenn Dagdelen eine Spaltung andeutet? „Dieses Zitat zeigt, dass auch bei den zentralen Akteuren von ,Aufstehen' noch unklar ist, worauf es organisatorisch hinausläuft.“ Kipping hat Dagdelen in den Parteivorstand eingeladen, um mal darüber zu reden. Fraktionschefin Wagenknecht reagiert auf Einladungen des Parteivorstands nicht mehr.

Kipping sieht die Bewegung bislang betont entspannt. „Es ist offen, was ,Aufstehen‘ wird. Das kann eine Website bleiben, eine interne Strömung in der Linkspartei werden oder eine neue Partei“, sagt sie.

Eine Partei zu gründen ist in Deutschlandziemlich umständlich. Neue Parteien ziehen magnetisch jede Menge Sonderlinge und Profilneurotiker an. Wagenknecht und Lafontaine sind nicht dafür bekannt, geduldig Organisationen zu managen. In Lafontaines Landesverband im Saarland herrscht seit Monaten Chaos. Auch Wagenknecht Wohlgesinnte bemängeln, dass die Fraktionschefin sich fast nur mit Leuten umgibt, die ihr recht geben. „Das große Dilemma von Sahra und Oskar ist: Es gibt für sie nur Fans oder GegnerInnen“, sagt Katina Schubert. Keine idea­len Voraussetzungen für eine Sammlungsbewegung.

Mit inhaltlicher Kritik hält sich Kipping zurück. Wagenknecht hat in einem Gründungstext für die Sammlungsbewegung geschrieben, dass „Weltoffenheit, Antirassismus und Minderheitenschutz bloße Wohlfühl-Label sind, um rüde Umverteilung von unten nach oben zu kaschieren und ihren Nutznießern ein gutes Gewissen zu bereiten“. Das war eine Schrotladung gegen Linksliberale, die als Büttel und Profiteure des Neoliberalismus erscheinen.

Kipping kommentiert dazu, dass man „1968 und die Freiheitsgewinne für Frauen und Migranten nicht geringschätzen kann, weil der Kapitalismus das Versprechen der Vielfalt genutzt hat“. Das ist sehr diplomatisch formuliert. Kein Öl in ein Feuer gießen, das vielleicht von allein erstickt.

Bei der Sammlungsbewegung zeichnet sich eine Doppelstrategie ab. Die Erklärungen lesen sich linksliberal, man kritisiert Rassismus und fordert Umverteilung. Doch daneben funken die Initiatoren andere Signale. Wagenknecht und Lafontaine reden von „Fassadendemokratie“. Die Parlamente sind demnach nur schöner Schein, haben faktisch nichts zu melden.

Auch die Grünen schlugen in ihren frühen Jahren antiparlamentarische Töne an. Doch heute agitieren vor allem Rechtsradikale wie Björn Höcke gegen „Altparteienkartell und Fassadendemokratie“. Der radikale Antiparlamentarismus, der Hass auf die „Volksverräter“ in den Parlamenten, ist 2018 rechts. Können Linke da auch gegen „Fassadendemokratie“ wettern?

Kipping hält es für nötig, die Wut zu entgiften – auch was die Bewegung betrifft

Der Soziologe Wolfgang Streeck ätzte kürzlich in der FAZ, dass wir „wehrfähige afghanische Männer, die keine Lust verspüren, uns bei der Bekämpfung der Taliban zur Seite zu stehen, als Flüchtlinge aufnehmen“. Das klang nicht nach „Entgiftung“ der grassierenden Wut, die Wolfgang Engler vorschwebt, sondern eher nach der Rhetorik der AfD.

Kipping hält es für nötig, die Wut zu entgiften – auch was die Bewegung betrifft. „Wenn man sich anschaut, wie in manchen ‚Aufstehen‘-Facebook-Gruppen über Flüchtlinge geredet wird, kann man nur hoffen, dass Sahra hier eine positive Orientierung gibt.“ Das wird ein Drahtseilakt. „Den Frust der Leute aufzugreifen und zu entgiften ist extrem schwierig“, sagt Wolfgang Engler.

Am Donnerstagabend rätselt er noch, ob er zum Auftakt von „Aufstehen“ gehen soll. Er hat noch keine Einladung erhalten.