Karl Nolle, MdL

welt-online.de, 17:59, 02.02.2014

Klausur in Potsdam: Habermas legt der SPD den Finger in die Wunde

 
PhilosophJürgen Habermas hat auf der SPD-Klausur in Potsdam gnadenlos mit der Krisenpolitik der großen Koalition abgerechnet. Parteichef Sigmar Gabriel nahm daraufhin gar die Union in Schutz.

Sonntagmittag, in Potsdam-Hermannswerder. Etwas verloren wartet ein älterer Herr vor dem "Inselhotel". Schüchtern betritt er das Entree, und es dauert eine Weile, bis ihm der Wintermantel abgenommen wird. Jürgen Habermas (Link: http://www.welt.de/themen/juergen-habermas/) , 84, ist ins "Inselhotel" eingeladen worden, vom SPD (Link: http://www.welt.de/themen/spd/) -Vorstand. Der kommt hier traditionell zu seiner zweitägigen Klausurtagung zusammen. Ein Empfangskomitee indes fehlt.

Wenig später stellt der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel (Link: http://www.welt.de/themen/sigmar-gabriel/) den Philosophen als einen "kritischen Begleiter" vor. Habermas seinerseits dankt für die Möglichkeit, vor der "geballten SPD-Prominenz" zu reden und zu diskutieren. Über das Missverhältnis zwischen dem "System einer zusammenwachsenden Weltgesellschaft und der Fragmentierung der Staatenwelt" will er sprechen. Habermas' Ruf nach einer viel stärkeren europäischen Vernetzung und seine Kritik an der EU-Kommission – sie passt gut in den eigenen Europawahlkampf (Link: http://www.welt.de/themen/europawahl/) , dürfte mancher Sozialdemokrat meinen.

Weit gefehlt – ganz im Gegenteil: Habermas redet der Sozialdemokratie beileibe nicht nach dem Mund. Er legt vielmehr den Finger in die Wunde. Zumal die SPD die Forderung nach mehr Vergemeinschaftung – etwa von Schulden – heute weitaus seltener erhebt als noch vor ein, zwei, drei Jahren. Wenn Habermas die "Notwendigkeit eines Politikwechsels" beschreibt, so bezieht er das ausdrücklich auch auf die Politik der großen Koalition (Link: http://www.welt.de/themen/grosse-koalition/) .

Er rechnet mit jener Krisenpolitik fundamental ab, mit der die SPD über die Koalitionsvereinbarung längst ihren Frieden gemacht hat. Er wirbt für Transfers, von denen die meisten Sozialdemokraten nichts mehr halten. Die "politische Entwürdigung ganzer Nationen" sieht Habermas, den "Absturz ganzer Generationen und Regionen". Es sind Begriffe und Sätze, die noch während des Bundestagswahlkampfs in der SPD zu hören waren, die aber inzwischen verstummt sind. Von Euro-Bonds mögen die Genossen nicht mehr reden; dabei war das Wort zeitweise ein Schlüsselbegriff im sozialdemokratischen Diskurs.

Schulz beschwört den Sprung der "Schnecke"

In den vergangenen Jahren habe die vorherige schwarz-gelbe Bundesregierung "die halb hegemoniale Stellung Deutschlands in der EU ziemlich robust ausgespielt", beklagt Habermas. Die neue schwarz-rote Koalition wolle das bisherige Krisenmanagement in der Schuldenkrise "leider fortsetzen". Die "hemdsärmelige durchgepaukte Krisenpolitik" aber rühre nicht an den Ursachen der Krise, sie berge vielmehr die "Gefahr eines deutschen Europas". Von den Parteien im Europawahlkampf verlangt Habermas eine "politisierende Agenda", die bislang nicht erkennbar sei.

Die politische Erdung übernimmt dann Martin Schulz (Link: http://www.welt.de/themen/martin-schulz/) , Spitzenkandidat der SPD für die Europawahl am 25. Mai. Wie "eine Sinfonie in meinen Ohren" klinge Habermas' Vortrag, sagt Schulz – um dann doch andere Akzente zu setzen. Der Fortschritt sei eben eine Schnecke, entzaubert er revolutionäre Gedankengebäude.

Nur mit Blick auf diese Europawahl erkennt Schulz eine Zäsur und zeichnet ein ziemlich gewagtes Bild: "Diesmal kann die Schnecke aber einen richtigen Sprung machen." Er meint damit den Einfluss des Europaparlamentes auf die große Macht des nächsten Präsidenten der EU-Kommission. Schulz, muss man wissen, will dieser Präsident in Nachfolge José Manuel Barrosos (Link: http://www.welt.de/themen/jose-manuel-durao-barroso/) werden. Er warnt vor unterschiedlichen Geschwindigkeiten in der europäischen Integration. Es dürfe nicht zur "Bildung zweier Parallel-Unionen" kommen, sagt Schulz und kündigt an: "Sollte ich Kommissionspräsident werden, werde ich mich diesem Thema widmen."

Gabriel nimmt sogar die Union in Schutz

Wie Schulz widersprechen fast alle Redner im SPD-Vorstand zwar freundlich, aber doch deutlich dem Gastredner. "Erste Lichtblicke" etwa sieht Sigmar Gabriel nach dem Krisenmanagement und verweist etwa auf die wirtschaftliche Gesundung Irlands. Habermas' harsche Kritik am Umgang mit den Krisenstaaten weist Gabriel zwar nicht expressis verbis zurück. Doch er lässt sich zur Lage Griechenlands (Link: http://www.welt.de/themen/griechenland-krise/) ein, nennt das Land "eher ein Thema für die Weltbank als für den Internationalen Währungsfonds, weil staatliche Strukturen da überhaupt nicht existieren".

Nur "unter Täuschung aller Daten" sei es Griechenland gelungen, in die Euro-Zone einzutreten. Und Gabriel nimmt sogar den Koalitionspartner in Schutz: Die CDU/CSU sei "nicht prinzipiell gegen" eine europaweite koordinierte Wirtschaftspolitik. "Es hat sich ja einiges geändert bei Frau Merkel seit Frühling 2010", sagt der SPD-Finanzpolitiker Joachim Poß mit Blick auf deren heutige Haltung in der Staatsschuldenkrise. Er spricht Habermas direkt an, mahnt mehr "Differenzierung" an. Die Verbindung, die der Philosoph zwischen der aktuellen hegemonialen Stellung Deutschlands in Europa und den beiden Weltkriegen zog, sei grundfalsch, sagt Poß.

So ausführlich sich die SPD-Spitze am Sonntagnachmittag mit den großen, übergeordneten, ja philosophischen Fragen der Politik befasst, geht es später um operative und organisatorische Fragen. Auf dem Programm stehen die Projekte der großen Koalition und – am Montag – der Europawahlkampf sowie die drei Landtagswahlkämpfe dieses Jahres (Sachsen, Thüringen, Brandenburg).

Mediale Abstinenz der Generalsekretärin

Mit der Neustrukturierung des als "Schlangengrube" verrufenen Willy-Brandt-Hauses (Link: http://www.welt.de/123982089) dürfte sich die SPD ebenfalls befassen. Die Machtfragen innerhalb der Partei sind zwar vorerst geklärt – doch ihre Parteizentrale steht abermals vor einer Umwälzung. Mit der neuen Generalsekretärin Yasmin Fahimi (Link: http://www.welt.de/themen/yasmin-fahimi/) hat das Haus eine neue Führung; und infolge des Eintritts von Gabriel in die Regierung verließen seine engsten drei Mitarbeiter das Haus.

Der Wechsel weiterer Referenten in Ministerien wird erwartet. Vorsichtshalber verzichtet die Spitze des Hauses darauf, ein neues "Organigramm" anzufertigen. Das intern bedeutsame Schaubild, das Macht und Hierarchien in Form von unterschiedlich großen Kästchen und Linien zeigt, ist bislang nicht überarbeitet worden. Im Willy-Brandt-Haus, intern "WBH" genannt, herrscht im Februar 2014 der September 2012.

Die neue Generalsekretärin sei zwar im Haus präsent, heißt es unter Mitarbeitern. Doch hat sie bislang weder einen Büroleiter noch einen Persönlichen Referenten berufen. Neue Sprecherin der SPD ist Anja Strieder, die seit vielen Jahren im Haus arbeitet, also bisher keine Vertraute Fahimis ist. Gegenüber Journalisten schottet sich Fahimi – auch nach ihrer Wahl vor einer Woche – weitgehend ab.

Gesprächsanfragen werden ignoriert, ein Hintergrundgespräch in größerer Runde nicht geführt. Alsbald werde sie dem "Spiegel" ein Interview geben, heißt es nun. Fahimi, bundespolitisch unerfahren und ohne ein Parlamentsmandat ausgestattet, wolle es vermeiden, auf dem glatten Berliner Parkett gleich auszurutschen: So verteidigen Parteifreunde ihre mediale Abstinenz eher lieblos.

Wie viel Stärke zeigt Fahimi in der Zentrale?

Ob Fahimi stark genug ist, einen eigenen Vorschlag für die Besetzung des Bundesgeschäftsführers zu unterbreiten – und durchzusetzen – , ist mehr als fraglich. Im Zweifel wird dies eine Entscheidung von Parteichef Gabriel sein, auch wenn es im Statut der SPD heißt: "Der Generalsekretär bestellt den Bundesgeschäftsführer im Einvernehmen mit dem Parteivorstand."

Auf der Tagesordnung steht dieses Thema nicht, in der Partei aber heißt es, der Posten müsse wieder besetzt werden, schon allein um die verkrachten Truppen in der Parteizentrale zu koordinieren. Die Funktion des "BGF" ist vakant, seitdem Astrid Klug den Posten im Jahre 2012 hingeschmissen hatte – in einer Mischung aus Krach mit Gabriel und privaten Gründen.

Die jüngsten Personalien bei der Regierungsbildung hatte Gabriel selbst entschieden, beraten durch seinen engsten Vertrauten und Staatssekretär Rainer Sontowski. Dieser hatte im "WBH" Gabriels Büro geleitet. Sein Nachfolger ist der bisherige Gabriel-Referent Carsten Stender. Als mögliche Bundesgeschäftsführerin gilt Jessica Wischmeyer, die bisher die Abteilung I (Partei) leitet. Wischmeyer ist dabei unter den inhaltlich arbeitenden Abteilungsleitern die letzte, die dem Haus in den vergangenen Monaten nicht abhandengekommen ist.

So wurde Politik-Abteilungsleiter Thorben Albrecht jüngst Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium; er ist ein Vertrauter von Ministerin – und Ex-Generalsekretärin – Andrea Nahles. Hans-Jörg Vehlewald, zwischenzeitlich Leiter der Abteilung III (Kommunikation), wechselte im vergangenen Jahr zurück zur "Bild"-Zeitung. Achim Post (Abteilung IV, Internationales) wurde im September in den Bundestag gewählt. Die Frage, ob Fahimi die Parteizentrale neu ordnet oder Gabriel dies besorgt, dürfte einiges aussagen über die innerparteiliche Autorität der neuen Generalsekretärin.

Von Daniel Friedrich Sturm , Potsdam