Karl Nolle, MdL

spiegel-online, 17:29 Uhr, 10.05.2014

Siegeszug des autoritären Kapitalismus - Demokratie in der Defensive

 
Eine Kolumne von Georg Diez

In der Ukraine prallen die Interessen der Großmächte aufeinander - aber nicht nur. Es geht auch um den Kampf zweier Kapitalismus-Modelle: des demokratischen gegen das autoritäre. Weltweit ist die westliche Variante auf dem Rückzug.

Die Panzer rollen durch Moskau, und die Mittelstreckenraketen, und auch die Gedanken und Assoziationen, marschieren auf einmal in Reih und Glied: Ist das, was Putin tut, tatsächlich schon eine "Provokation"? Und zeigt er, wie Kurt Kister in der "Süddeutschen Zeitung" schreibt, dem Westen wirklich den "Stinkefinger", wenn er auch auf der Krim am 9. Mai den Sieg über Deutschland feiert?

Oder macht Putin nur seinen Job?

Es ist viel Geschichte unterwegs gerade, weil die Vergangenheit, so die Suggestion, hilft, die Gegenwart zu verstehen - und das ist auch nicht ganz falsch: Das Unbehagen in der Ukraine über die Sympathie so vieler Deutscher für Russland hat mit dem Wissen darüber zu tun, dass für diese beiden Mächte die Mittelländer, die zwischen ihnen lagen, oft eine Art Verfügungsmasse waren: die drei Teilungen Polens 1772, 1793 und 1795 zum Beispiel, nach denen Polen für 120 Jahre von der Landkarte verschwand.

Es ist das Schicksal dieser Länder - Polen, Tschechien, die Slowakei, die Ukraine -, dass sie an der Bruchstelle des Kontinents liegen und damit der Macht zum Fraß vorgeworfen sind - die Frage ist nur, ob die Vergangenheit, die mächtig ist, nicht auch einen Schaden für die Gegenwart hat, wenn sie zu sehr und automatisch und oft ideologisch übersteigert als Erklärung für die heutigen Krisen und Konflikte verwendet wird.

Welche Erwartungen haben wir an Gegenwart und Zukunft?

Das Verständnis etwa, ja geradezu die Empathie vieler Deutscher mit Russland, das, so die Standard-Argumentation, immer noch nicht die Opfer des Zweiten Weltkriegs und die territorialen Verluste am Ende des Kalten Kriegs verwunden habe - dieses Einfühlungsvermögen äußert sich recht ungleichmäßig und selektiv und so gut wie nie, wenn es etwa um die Einflusssphären der USA geht: Die von Max Weber geprägte Skepsis einer Politik gegenüber, die von Idealen und Werten geprägt ist, verbindet sich hier mit altem Antiamerikanismus und der opportunistischen Bewunderung für die Stärke einer fast klassischen Herrschergeste.

Und auch die so drängende Sorge um den Antisemitismus in der Ukraine ist, vorsichtig gesagt, eine relativ neue und wackelige Erscheinung: Wenn Hunderte Judenfeinde, wie gerade geschehen, grölend durch Paris ziehen, ist das kein Grund, zum Marsch auf den Elysée-Palast zu rufen - und genauso wird der rechte Terror in Deutschland und der wachsende Antisemitismus der Mitte eher beiläufig registriert und hingenommen. Die Sorge ist auch hier sehr selektiv und eher strategisch.

Vielleicht also lässt sich vieles von dem, was gerade auf dem Umweg oder zum Schaden der Ukraine diskutiert wird, doch weniger mit der Geschichte erklären - und mehr damit, welche Erwartungen die Deutschen an Gegenwart und Zukunft haben: Wie wichtig also sind ihnen individuelle Freiheit und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, und wie wichtig sind ihnen Sicherheit und Stabilität?

Demokratie in der Defensive

Anders gesagt: Lässt sich das deutsche Verständnis der russischen Politik nicht am besten damit erklären, dass der autoritäre Kapitalismus, wie er von Putin propagiert wird, eine sehr große Anziehungskraft hat? Und, weiter gefragt, ist die Defensive, in die hier die Demokratie gerät, nicht symptomatisch und ein Zeichen dafür, welche Konflikte noch auf uns zukommen?

Geht es in der Ukraine also um Fragen des Kalten Krieges - oder geht es um eine Auseinandersetzung, die zwei Formen von Kapitalismus betrifft: ein, mehr oder weniger, freiheitlicher Kapitalismus, der gerade von innen durch eigenes Versagen und von außen durch Ausnutzen dieser inneren Schwäche stark unter Druck steht, gegenüber einem Kapitalismus, der die Zügel der Demokratie schon ganz abgestreift hat.

Ist die Ukraine also nicht viel eher ein Schauplatz von Konflikten des 21. Jahrhunderts als von denen des 18., 19. und 20. Jahrhunderts? Schon vor Jahren hat der philosophische Zeitgeistmesser Slavoj Zizek darauf hingewiesen, dass der autoritäre Kapitalismus der Sieger der Wirtschafts- und Finanzkrise seit 2008 sei. Von China bis Singapur, von Russland bis zu einem von dem Hindu-Politiker Narendra Modi regierten Indien entwickelt ein von elementaren Freiheitsrechten entkoppelter Kapitalismus eine große Überzeugungskraft: Es könnte das Erfolgsmodell dieses Jahrhunderts sein.

Gleichheit - eine Anomalie des Kapitalismus

Der amerikanische Journalist George Packer hat in seinem Buch "The Unwinding", das demnächst auch auf Deutsch erscheint, beschrieben, wie sehr sich die USA schon zu einer Oligarchie hin entwickelt haben. Er hat auch beschrieben, dass die Zeit der an Gerechtigkeit und Partizipation orientierten Demokratie eine recht kurze Phase gewesen sein könnte, von Roosevelt bis Reagan in etwa - fünfzig Jahre, weniger die Regel als die Ausnahme, um eine Formulierung von Thomas Piketty zu verwenden, dem Kapitalismuskritiker der Stunde.

Piketty schildert in seiner jetzt schon klassischen Analyse "Le capital au XXIe siècle", wie das Kapital, wenn man es ungezügelt lässt, die Gesellschaft unvermeidlich zu immer mehr Ungleichheit hin verändert - Gleichheit ist eher eine Anomalie des Kapitalismus, die Mittelschicht eine Erfindung des 20. Jahrhunderts: Prinzipiell, so Piketty, sind alle Errungenschaften und Emanzipationsprozesse umkehrbar, nichts ist sicher. "Es ist eine gefährliche Illusion zu glauben", sagt er im SPIEGEL-Gespräch, "die Demokratie würde der wirtschaftlichen Entwicklung folgen."

Das ist die Situation: Der Westen wankt, der Kapitalismus entwickelt sich rückwärts, das macht Raum frei, in den andere stoßen, territorial oder ideell - darum geht es gerade in der Ukraine, damit erklärt sich auch die neue Sympathie vieler Deutscher für Russland; sie merken, wer aktuell der Stärkere ist, und passen sich dem an.