Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, 20.01.2018

Sachsens Polizei - ein Trauerspiel?

 
Die Sicherheitspolitik des Freistaates schwankt zwischen hartem Durchgreifen und der Pflege des Images nach außen.

Wer in Sachsen lebt und arbeitet, der kennt sie inzwischen, diese eine Frage: Was ist denn los bei euch? Denn dass etwas los ist im Freistaat, dass er vielleicht sogar ganz anders ist als andere Bundesländer, das scheint auf der Hand zu hegen - und dafür musste man in den vergangenen zwei Jahren noch nicht einmal in die Zeitungen und Online-Artikel schauen. Ein Blick auf Titel und Startseiten genügte schon: Vom "failed State", einem gescheiterten Staat also, war da die Rede, von Politikversagen, einem "Trauerspiel".

Für dieses Bild sind verschiedene Faktoren verantwortlich: Pannen bei Justiz und Sicherheitsbehörden, eine eher schwierige politische und gesellschaftliche Kultur und eine zuweilen hysterische Berichterstattung. Den verheerendsten Eindruck aber hinterlässt der mindestens ungeschickte Umgang der Staatsregierung mit Problemen, die den einstmals so guten Ruf des Musterlandes unter den neuen Bundesländern beschädigen können. Das Hauptproblem im Freistaat ist nicht die gelegentlich sportliche Auslegung rechtsstaatlicher Prinzipien, sondern der desaströse Umgang mit Pannen und Problemen.

Äußerer Schein vor innerer Sicherheit, so könnte man grob zusammenfassen, was allzu häufig passiert. Denn wenn einmal eingeräumt werden muss, dass etwas schiefgelaufen ist, dann folgen daraus nicht zwangsweise Konsequenzen. Das belegt die bislang gravierendste Panne: der Selbstmord des Terrorverdächtigen Dschaber al-Bakr im Oktober 2016 in einem Leipziger Gefängnis. Der Syrer stand unter dem Verdacht, einen Terroranschlag mit Sprengstoff in Deutschland zu planen - nach Aussagen von Bundesinnenminister Thomas de Maiziere (CDU) traf er in Chemnitz Vorkehrungen, die den Anschlägen von Paris und Brüssel ähnelten.
 
Doch die' Verhinderung seiner Pläne geriet zur Farce:' Erst konnte der Mann der Polizei in Chemnitz zu Fuß entkommen; die Verfolgung des mutmaßlichen Terroristen scheiterte nach Behördenangaben an der schweren Schutzausrüstung der Beamten. Al-Bakr flüchtete nach Leipzig, wo er bei syrischen Flüchtlingen zunächst Unterschlupf fand. Als diese ihn anhand von Fahndungsfotos erkannten, überwältigten sie ihn und übergaben ihn der Polizei. Bevor al-Bakr umfassend verhört werden konnte, erhängte er sich in seiner Zeile; weil man in der Justizvollzugsanstalt davon ausging, er sei nicht akut selbstmordgefährdet, hatte man auf die Unterbringung in einem gesicherten Raum und eine ständige Überwachung verzichtet.

Eine Expertenkommission zur Aufarbeitung der Vorgänge kam Anfang 2017 zu dem Schluss, es habe bei der Verhaftung und Unterbringung al-Bakrs "eine ganze Reihe Fehler und Regelverletzungen" gegeben. Von Staatsversagen könne zwar keine Rede sein, es habe aber "über den gesamten Einsatz hinweg keinen funktionsfähigen Führungsstab im Sinne der Polizeidienstvorschriften" gegeben.

Konsequenzen? Die hatten bis zu diesem Urteil der damalige Ministerpräsident Stanislaw Tillich und sein Justizminister Sebastian Gemkow längst ausgeschlossen. Das Muster ist bewährt: Fremdenfeindliche Ausschreitungen und ein großes rechtsextremistisches Potenzial in der Bevölkerung werden allzu schnell als Übertreibungen abgetan. Nur wenn man an den Fakten nicht mehr vorbei kann, gibt es Einsicht: So belegt der von der Staatsregierung in Auftrag gegebene Sachsen-Monitor, dass mehr als die Hälfte der Sachsen glaubt, Deutschland sei durch Ausländer "in gefährlichem Maß überfremdet".

Allzu häufig wird Kritik im ersten Impuls gebetsmühlenartig als bewusstes Schlechtreden von außen abgetan. Kommt sie von innen, gilt sie als Nestbeschmutzerei. Viele sächsische Ortsnamen sind in den vergangenen Jahren zu Chiffren für menschenfeindliche Pöbeleien und Angriffe geworden: Freital, Heidenau, Clausnitz, Bautzen. Als es in Bautzen Ausschreitungen zwischen Flüchtlingen und Einheimischen gab, da wusste der zuständige Polizeichef viel über das Fehlverhalten der unbegleiteten minderjährigen Asylbewerber zu berichten. Die deutschen Pöbler seien dagegen "eventbetont unterwegs" gewesen. Nach einem Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft in Meißen erklärte der Landrat des Kreises Reportern, es gebe keine rechten Umtriebe - wer von außen komme und "Mist" nachquatsche, könne das gar nicht beurteilen.

Als in Freital eine Anti-Asyl-Initiative tagelang aggressiv gegen eine Flüchtlingsunterkunft demonstrierte, stellte Sachsens damaliger Innenminister Markus Ulbig fest, nicht jeder, der gegen Asylbewerber auf die Straße gehe, sei rechtsextrem. Und auch noch nach einem Antiterroreinsatz gegen die Gruppe Freital, die zuerzeit wegen der Bildung einer terroristischen Vereinigung vor Gericht steht und der die Planung von Anschlägen vorgeworfen wird, hieß es aus der örtlichen CDU, es gebe in Freital keine Neonazi-Szene. Obwohl der sächsische Verfassungsschutzbericht eine gänzlich andere Sprache spricht und ausführlich rechtsextreme Vernetzungen beschreibt.

Selbst dann noch, als Ministerpräsident Tillich massive Probleme mit einem bisher von ihm unterschätzten Rechtsextremismus bekannte, da beeilte sich sein Fraktionschef Frank Kupfer zu betonen, man verwahre sich gegen Belehrungen von außen und den Versuch, die erfolgreiche Politik der sächsischen CDU des letzten Vierteljahrhunderts zu diskreditieren. Wo andere buchstäbüch noch die Scherben auffegten, da sagte Kupfer, er wolle keine migrantischen No-go-areas im Land.

Man könnte von unterschiedlichen Bewertungen und Sichtweisen sprechen, wäre nicht die lange Tradition der eher verschleppten Aufarbeitung so augenfällig: Seit der frühere sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf den Sachsen Immunität gegen den Rechtsextremismus attestiert hat, hat es Tradition im Freistaat, das Fortbestehen extremistischer Strukturen, die es seit der DDR gibt, zu leugnen. Sogar der sächsische NSU-Untersuchungsausschuss, der die Frage klären sollte, wie der Nationalsozialistische Untergrund jahrelang unerkannt im sächsischen Zwickau leben und dort vermutlich seine Morde und Banküberfälle planen konnte, kam nur schleppend in Gang.

Als SPD, Grüne und Linke ein solches Gremium im März 2012 erzwangen, hielt die damalige schwarz-gelbe Regierung es für überflüssig: Ohne Zweifel hätten die sächsischen Behörden gewissenhaft gearbeitet, eine "rückwärtsgewandte" Aufklärung sei überflüssig. Im Abschlussbericht hieß es, weil keine gravierenden Fehler gemacht wurden, müsse an der Sicherheitsstruktur des Freistaats nichts geändert werden. Die Opposition, zu der die SPD damals noch gehörte, hält weiterhin viele Fragen für offen. Bei der Abstimmung über einen zweiten Ausschuss, der in dieser Legislatur arbeitet, enthielten sich die Sozialdemokraten dann schon.

Sie haben es in der Koalition mit der seit 1990 in Sachsen regierenden CDU ohnehin schwer, Rückgrat zu beweisen. Für die sächsischen Christdemokraten steht der Feind vor allem links - das wurde auf spezielle Weise deutlich rund um die Demonstrationen zum 13. Februar. Die Erinnerung an die Bombardierung Dresdens 1945 ist in der Stadt traditionell umstritten: Während Neonazis seit Ende der 90er-Jahre den Jahrestag für ihre Propaganda nutzten, dauerte es lange, bis es gemeinsame Aktionen der Demokraten gab. Dass die sächsische Polizei 2011 rechtswidrig Verbindungsdaten von Demonstranten gegen rechts gespeichert und gegen viele von ihnen strafrechtlich vorgegangen war, galt vielen Beobachtern als Beleg dafür, dass die sächsische Union vor allem dann auf "Law and Order" setzt, wenn es gegen links geht.

Als Pegida zum Fest der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2016 von der Polizei ungehindert Staatsgäste und Besucher der Feierlichkeiten unflätig beschimpfen konnte, gab es danach Lob vom Innenminister: Die Polizei habe den "schwierigen Spagat zwischen Fest und Festung" insgesamt "mit Fingerspitzengefühl" gemeistert, so Ulbig. Hartes Durchgreifen in den eigenen Reihen ist weniger beliebt. Und als der sächsische SPD-Vorsitzende und stellvertretende Ministerpräsident Martin Dulig in verschiedenen Interviews der sächsischen Polizei eine Nähe zu Pegida und zur AfD bescheinigte und sagte, die CDU in Sachsen trage eine Mitschuld am Rechtsextremismus, löste das eine so heftige Koalitionskrise aus, dass die Opposition zur "Paartherapie" riet.
Doch mit besserer Kommunikation wäre nicht nur der sächsischen Regierungskoalition gut geraten. Genauso wenig wie dem politischen und öffentlichen Diskurs mit dem Verharmlosen und Totschweigen gedient ist, helfen brachiale Pauschalurteile: Die Äußerungen vieler Bundespolitiker, die in den Pegida-Demonstranten per se "eine Schande" oder eine "Mischpoke" sahen und von "Dunkeldeutschland" oder dem "Tal der Ahnungslosen" sprachen, sorgte nicht nur bei den Demonstranten selbst für Trotzreflexe.

Auch viele Sachsen, die nicht zum rechten Spektrum gehören, rüsteten daraufhin bei der Verteidigung verbal auf. Manchmal kommt es zudem auf die Feinheiten an: Zu Recht löste der Wunsch eines Polizisten, der den Pegida-Versammlungsteilnehmern am 3. Oktober 2016 einen "erfolgreichen Tag" gewünscht hatte, Empörung aus. Doch "typisch Sachsen" war daran nichts: Der Beamte kam aus Niedersachsen.

Unsere Autorin Susanne Kailitz (40) hat in Chemnitz Politikwissenschaften studiert und zum Verhältnis von Frankfurter Schule, Studentenbewegung und RAF promoviert. Sie arbeitet als freie Publizistin und Journalistin in Dresden. Ihren Beitrag entnahmen wir dem Band "innere Sicherheit in Sachsen" (Ed. Leipzig, 160 S., 12,95 Euro), herausgegeben von Alexander Yendell, Gert Pickel und Karolin Dörner.

Unter dem Titel Perspektiven veröffentlichen wir kontroverse Texte, die zur Diskussion anregen sollen