Karl Nolle, MdL

Freie Presse Chemnitz, Seite 3, 26.05.2017

Verfassungsväter - 25 JAHRE SÄCHSISCHE VERFASSUNG

 
Heute vor 25 Jahren hat der Landtag „Sachsens Grundgesetz" verabschiedet. Marko Schiemann stimmte damals zu, Klaus Bartl dagegen. Beide hatten zuvor monatelang am Entwurf gearbeitet. Ein Gespräch über das Ringen um Worte, Siege und Niederlagen - und Sitzordnungen

Dresden - Ohne diese beiden Verhandlungsführer sähe Sachsens Verfassung heute wohl etwas anders aus. Zum Jubiläum traf Timo Moritz Marko Schiemann (CDU) und Klaus Bartl (Linke) zum Gespräch.

Freie Presse: Herr Schiemann, Herr Bartl hat vor 25 Jahren gar nicht zugestimmt. Ist er trotzdem einer der Verfassungsväter?

Marko Schiemann: Jeder, der sich aktiv an der Erarbeitung beteiligt hat, zählt dazu — unabhängig davon, ob er am Ende zugestimmt hat.

Klaus Bartl: Heute würde ich nicht mehr ablehnen. Nachdem ich weiß, was ich auf dem Boden der Verfassung alles bewegen kann, würde ich mich enthalten. Der Rest klärt sich vorm Verfassungsgericht in Leipzig.

Wie oft haben Sie dort schon erfolgreich geklagt, Herr Bartl?

Bartl: Nur eine von zehn Normenkontrollklagen haben wir verloren 2008, als wir die Kreisreform verhindern wollten. Wir sahen Artikel 88 als nicht erfüllt an, wonach Kreisgebiete nur „zum Wohle der Allgemeinheit' geändert werden dürfen. Von den 39 Organstreitigkeiten - als Fraktion, Ausschussmitglieder oder Abgeordnete — haben wir 31 ganz oder in wesentlichen - Teilen „gezogen". Immerhin.

Ärgert das einen CDU-Mann?

Schiemann: Gar nicht. Halten sich Landtag oder Regierung nicht an die Verfassung, gibt es das Korrektiv durch den Verfassungsgerichtshof – das ist etwas Gutes! Das ist wie mit einem guten Wein. Umso länger die Verfassung ihre Bindungswirkung entfaltet, umso sicherer kann die Justiz sie auslegen - und umso gewinnbringender ist sie für den Bürger. Um dessen Rechte geht es ja.

Sie gehörten zu den 16 Abgeordneten, die in Gohrisch auf Wochenendklausuren ab Dezember 1990 den Verfassungsentwurf ausarbeiteten. Eine schöne Zeit?

Schiemann: Wir waren müde, aber euphorisch-wie Schwämme, di e alles aufgesogen haben. Wir haben versucht, das Beste fürs Land zu erreichen. Entscheidend war, dass wir unsere Lebenserfahrung einbringen konnten. Erst fürs juristische Ausfeilen brauchten wir die Berater.

Bartl: Ich war der einzige Linke, nur noch unser Fraktionsberater war dabei. Wir wurden öfter darauf hingewiesen, dass unsere Zeit vorbei ist. Anfangs saßen wir an einem extra Tisch, nur eine Regierungsvertreterin, die dem Vertriebenenverband angehörte, setzte sich dazu und sagte, sie wisse, wie das ist.

Schiermann: Wir haben dann aber die Sitzordnung geändert und gesagt: In den Pausen sollte man schon mal über seinen Schatten springen.

Hatten Sie als früherer SED-Funktionär überhaupt eine Chance auf Gehör, Herr Bartl?

Bartl: Ich war zwar derjenige, der als PDS-Mann die Schuld abzutragen hatte. Aber in der Sache gab es keine Attacke unter die Gürtellinie. Es war auch mir möglich, mit einem vernünftigen Argument durchzudringen. Das ist heute im Landtag manchmal schwerer als damals. Ich war damals ja auch schon in anderer Hinsicht vorbelastet: als Rechtsberater der PDS-Fraktion der letzten DDR-Volkskammer für den Verfassungsentwurf des Runden Tisches. Es war selbst für mich ein Aufbruch.

Was konnten Sie durchsetzen?

Schiemann: Mir war der Anspruch auf Wiedergutmachung in Artikel 116 für Opfer zu Zeiten des Nationalsozialismus und der DDR sehr wichtig. Und wir haben dem Datenschutz Verfassungsrang gegeben das hatte damals noch keiner.

"Wir waren das erste deutsche Parlament,
das sich selbst beschnitten hat."

Marko Schiemann CDU-Abgeordneter

Marko Schiemann
Der heute 61-Jährige kam am 3. Juli 1955 in Bautzen zur Welt. Nach dem Geodäsie-Studium in Dresden arbeitete er als Vermessungsingenieur. Seit Oktober 1990 ist der verheiratete Vater von vier Kindern Landtagsabgeordneter. Wie der Linke Klaus Bartl war auch er nicht nur Verhandlungsführer bei der Erarbeitung des Verfassungsentwurfs bis 1992, sondern zudem an der fraktionsübergreifenden Einigung auf die bisher einzige Verfassungsänderung 2013 zur Verankerung der Schuldenbremse beteiligt. Bis zum Herbst 2014 war der Nicht-Jurist rechtspolitischer Sprecher der Unionsfraktion, seither ist der Sorbe ihr europapolitischer Sprecher. (tz)

Klaus Bartl
Der heute 66-Jährige wurde am 23. September 1950 in Oberwiesenthal geboren. Direkt nach dem Jura-Studium arbeitete er von 1976 bis 1978 als Staatsanwalt. Weil er während seiner Armeezeit bis 1971 auch Stasi-IM und in der SED-Bezirksleitung Karl Marx-Stadt zuletzt bis 1989 als Abteilungsleiter Staat und Recht tätig war, wurde er im Landtag lange angefeindet. Inzwischen ist er Chef des Verfassungsausschusses. Von 1990-1994 war der verheiratete Vater dreier Kinder „Linke Liste/PDS“-Fraktionschef. Seine Ablehnung der Verfassung begründete er 1992 etwa mit zu hohen Hürden für Volksentscheide und dem fehlenden Grundrecht auf Arbeit. (tz)

Bartl: Dieser Artikel 33, Herr Schiemann, ist aber leider nur noch eine leere Hülle. Keiner von uns weiß doch, wann welche Daten weitergegeben werden. Vor 25 Jahren wurde bis aufs kleinste Wort gerungen. Beim Fragerecht der Opposition gab es Erfolge - auch wenn wir die Vorgabe, die Regierung müsse „wahrheitsgemäß" antworten, nicht hereinbekamen. Uns wurde gesagt, das sei doch ganz selbstverständlich. 'Ansonsten: Nur in Sachsen hat das Trennungsgebot, wonach das Land keinen Geheimdienst-mit polizeilichen Befugnissen unterhält, Verfassungsrang. Und bei der Volksgesetzgebung hat die CDU nachgegeben.

Trotzdem gab es bisher gerade mal einen Volksentscheid - 2001 zum Erhalt kleiner Sparkassen. Sind die 450.000 Unterschriften nicht eine zu hohe Hürde?

Schiemann: Die Volksgesetzgebung war damals die letzte Baustelle. Ursprünglich sollten sowohl eine Mindestbeteiligung als auch ein Zustimmungsquorum von 50 Prozent der Wahlberechtigten vorgeschrieben werden — also fast zwei Millionen Sachsen. Heute haben wir weder das eine, noch das andere— dafür aber eben das Unterschriftenquorum vor dem Volksentscheid.

Bart!: Auch der Sparkassen-Entscheid klappte nur, weil die Unterschriften in Filialen gesammelt werden konnten. Die Hürde ist zu hoch.

Schiemann: Aber an der Gleichrangigkeit zwischen Landtag und Volk als Gesetzgeber im Artikel 3, Absatz 2, kommt auch der Jurist Bartl nicht vorbei. Die Mehrheit im Landtag von CDU und SPD wurde 2014 von beinahe 85o.o0o Sachsen gewählt. Da sind die 450.000 Unterschriften schon vergleichsweise wenig.

Bart!: Sie sind der diplomierte Vermessungsingenieur, als Jurist habe ich es nicht so mit Zahlenspielen. Aber dass die Kluft zwischen Politik und Bürgern zunimmt, hat auch mit der zu hohen Schwelle zur Teilhabe zu tun.

Wem ist die in Artikel 41 geregelte Landtagsgröße zu verdanken?

Schiemann: In der Unionsfraktion bekam der Vorschlag, den Landtag von 160 auf 120 Sitze zu verkleinern, genau eine Stimme Mehrheit. Wir waren das erste deutsche Parlament, das sich selbst beschnitten hat.

Kam die entscheidende Stimme von Ihnen, Herr Schiemann? Und was konnten Sie in der Verfassung nicht unterbringen?

Schiemann: Wir wollten Frauen, die Kinder erziehen, besonders schützen - damit sich Familien trotz schwieriger Lage auf dem Arbeitsmarkt nicht von vornherein gegen Kinder entscheiden. Das scheiterte. Dafür haben wir dann später das Landeserziehungsgeld eingeführt
.
Bartl: Wir wollten im Artikel / als staatlichen Grundsatz auch noch die Verpflichtung Sachsens zum Frieden. Das steht zwar schon in der Präambel, ist dort aber nicht justiziabel. Die Juristen sagen dazu: Den Mund spitzen, aber nicht pfeifen.

"Auch als Sozialist kann ich gut mit der
Verfassung leben. Sie ist es wert, verteidigt
zu werden,"
 Klaus Bartl Linke-Abgeordneter

Schiemann Aber es ist öfter vorgekommen, dass man etwas an anderer Stelle unterbekam. „Frieden" findet sich jetzt als Erziehungsauftrag an die Jugend im Artikel 101.

Bartl: Stimmt, wir hatten dort stundenlang uns die von Ihnen gewünschte „Ehrfurcht' gerungen.

Schiemann: Weil Sie etwas gegen die „Bewahrung der Schöpfung" hatten. Die haben wir in der Präambel. Es ist eine wirklich gute Verfassung.

Bartl: Keine Einwände, auch als Sozialist kann ich wirklich gut mit ihr leben. Sie ist es Wert, verteidigt zu werden. Ich weiß aber nicht, wie viele meiner heutigen Landtagskollegen überhaupt schon mal etwas tiefer hineingeschaut haben. .
Streit um Sachsens Nummer 1
Warum Ministerpräsident Biedenkopf und Landtagspräsident Iltgen der Wortlaut von Artikel 76 so wichtig war
von Tino Moritz

DRESDEN - Knapp zehn Wochen vor der Verabschiedung der Verfassung erhielt der damalige Ministerpräsident Besuch von Landtagspräsident Erich Iltgen. „Von Gewaltenteilung hält er offenbar wenig", vertraut Kurt Biedenkopf am 19. März 1992 seinem Tagebuch an. Iltgen sei es um die „leidige Frage" gegangen, wer die vom Landtag beschlossenen Landesgesetze unterschreiben und damit ausfertigen dürfe. Iltgen fand, ihm stehe das zu, nicht Biedenkopf.

Der Konflikt der beiden CDU-Politiker hatte sich schon ein paar Monate vorher angedeutet - als es bei der Dresdner Zulassungsstelle um das Autokennzeichen „LSN 1 - 1" für die neuen Dienstwagen ging. Iltgens Abgesandter war früher da und gewann. Biedenkopf aber mochte wohl nicht durch das anderswo für Regierungschefs durchaus übliche „2 - 1"-Kennzeichen zur Nummer degradiert werden und wich auf „DD -LS 1" aus, wie der langjährige Dresdner Politik-Korrespondent Stefan Rössel in seiner kürzlich erschienenen Iltgen-Biografie schreibt.

Doch auch in einem der 122 Artikel der Verfassung musste das Problem irgendwie gelöst werden. Nach einigem Hin und Her fand sich für Artikel 76 dann folgende Lösung: „Die verfassungsgemäß beschlossenen Gesetze werden vom Landtagspräsidenten nach Gegenzeichnung des Ministerpräsidenten und des zuständigen Staatsministers ausgefertigt und vom Ministerpräsidenten binnen Monatsfrist ... verkündet".

In seinem Tagebuch kommentiert Biedenkopf auch die Verfassungsentscheidung in der Dreikönigskirche

„Der Entwurf wird von allen Fraktionen mit Ausnahme der PDS getragen", schreibt er zu Beginn der zweiten Lesung am 25. Mai 1992. Am Tag danach erwähnt er auch den Beifall nach der namentlichen Abstimmung (132 Ja, 15 Nein, 4 Enthaltungen) und das Singen der Hymne. „Ich ging zu Iltgen, um ihm zu gratulieren, und umarmte ihn", so Biedenkopf. Und weiter über Parteifreunde: »(Marko) Schiemann war glücklich, dass (Volker) Schimpff sich nur der Stimme enthalten hatte" - also nicht wie sonst nur PDS Abgeordnete sogar dagegen stimmte. Am 27. Mai 1992 folgte der Festakt zur Unterzeichnung der Verfassung. Iltgen durfte dort auf Seite 31 unterschreiben - und Biedenkopf auf Seite 32.

Literatur: Stefan Rössel:
"Mit sicherer Hand. Erich Iltgen - ein
Leben für die sächsische Demokratie",
Verlag Hille, Dresden 2017

Auszüge aus der Verfassung des Freistaates Sachsen

Das Land achtet die Interessen ausländischer Minderheiten deren Angehörige sich rechtmäßig im Land aufhalten (Art. 5, Abs. 3)

Das Land erkennt das Recht eines jeden Menschen auf ein menschenwürdiges Dasein, insbesondere auf Arbeit, auf angemessenen Wohnraum, auf angemessenen Lebensunterhalt, auf soziale Sicherung und auf Bildung, als Staatsziel an. (Artikel 7. Absatz 1)

Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft. (Artikel 22, Absatz 5)

Jeder Mensch hat das Recht, über die Erhebung, Verwendung und Weitergabe seiner personenbezogenen Daten selbst zu bestimmen. Sie dürfen ohne freiwillige und ausdrückliche Zustimmung der berechtigten Person nicht erhoben, gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden. (Art. 33, Satz 1 und 2)

Die Bediensteten des Freistaates und der Träger der Selbstverwaltung sind Diener des ganzen Volkes, nicht einer Partei oder sonstigen Gruppe, und haben ihr Amt und Ihre Aufgaben unparteiisch und ohne Ansehen der Person nur nach sachlichen Gesichtspunkten auszuüben. (Art. 92, Abs. 1)

Die Jugend ist zur Ehrfurcht vor allem Lebendigen, zur Nächstenliebe, zum Frieden und zur Erhaltung der Umwelt, zur Heimatliebe, zu sittlichem und politischem Verantwortungsbewusstsein, zu Gerechtigkeit und zur Achtung vor der Überzeugung des anderen, zu beruflichem Können, zu sozialem Handeln und zu freiheitlicher demokratischer Haltung zu erziehen.
(Artikel 101, Absatz 1)