Karl Nolle, MdL

SPIEGEL ONLINE .15:38 Uhr, 13.08.2018

Jakob Augstein: Linke Sammlungsbewegung - Aufstehen? Oder sitzen bleiben?

 
Gerechte Löhne, bezahlbare Mieten, Kindheit ohne Armut: Diese Forderungen der linken Sammlungsbewegung sind selbstverständlich, und nicht radikal. Die Deutschen können jetzt zeigen, was ihnen wichtig ist.

Kolumne von Jakob Augstein

Unter aufstehen.de kann seit einigen Tagen jeder Teil der linken Sammlungsbewegung werden. Die These, dass die Leute in Wahrheit linker sind als die Politik - jetzt kann sie sich bewahrheiten, oder eben nicht. Eine Entschuldigung gibt es dann aber nicht mehr. Wenn die Deutschen jetzt nicht aufstehen, dann weiß man nachher wenigstens: Sie sitzen mit Absicht.

Die linke Sammlungsbewegung hat bis Ende vergangener Woche schon mehr als 60.000 digitale Unterstützer gefunden - obwohl ihr Programm noch gar nicht bekannt ist. Hier zeigt sich nicht netztypische Sorglosigkeit, die freigiebig mit ihren Klicks umgeht. Hier äußert sich eine große Sehnsucht. Die Sehnsucht ist eine starke Kraft. Dennoch verzichtet moderne Politik fast immer auf sie.

Warum? Weil Sehnsucht eine radikale Kraft ist und moderne Politik vor allem auf Radikalitätsvermeidung setzt.

Ist man radikal, wenn man gerechte Löhne fordert, bezahlbare Mieten, und eine Kindheit ohne Armut? Nein. Man ist Realist. Es ist der Realismus selbst, der zur radikalen Haltung geworden ist. Natürlich kann Deutschland auch als immer ungleicheres und ungerechteres Land funktionieren. Die USA und Großbritannien zeigen, wie das geht. Eine (wenigstens nach innen) friedliche und liberale Gesellschaft lässt sich auf diese Weise aber nicht aufrechterhalten. Die Frage ist, was die Deutschen wollen.

Was in Politik und Medien jetzt geschieht, kennt man schon: Wenn in Deutschland einer für Gerechtigkeit aufsteht, fangen die anderen erst mal an zu murren. In einer Gesellschaft, die sich ans Dösen gewöhnt hat, ist Bewegung verdächtig. Und außerdem lässt sich niemand gern das eigene Versagen vor Augen führen.

Besonders abscheulich war die Einlassung der "Bild"-Zeitung, die linke Sammlungsbewegung und ihre Gründer glatt in die Nähe der Nationalsozialisten zu bringen. Weil die Nazis ja auch keine Partei sein wollten, sondern Bewegung. Das hat Michael Wolffsohn geschrieben, der "Bild"-Historiker fürs Grobe. Man erinnert sich: Es ist seit jeher eine beliebte Denkfigur der Rechten, Nationalsozialisten zu Sozialisten zu erklären.

Abgesehen davon stellt sich tatsächlich eine Fülle von Fragen. Die wichtigste: Sind Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine die Richtigen, eine linke Sammlungsbewegung anzuführen - und sei es nur, weil sonst niemand den Job übernimmt? Oder können die Spalter von einst heute keine Kraft der Einigung sein?

Auch werden die Linken sich über die Schicksalsfrage unserer Zeit klar werden müssen: über die Migration. Ist die ursprüngliche linke Forderung nach offenen Grenzen ein Zeichen der internationalen Solidarität - oder führt Migration im Neoliberalismus zu Lohndrückerei und Auszehrung der Herkunftsländer?

Das muss man alles klären - wenn die Bewegung einmal unterwegs ist. Für diese Reise gibt es keine Landkarte.

Wie getroffene Hunde jaulen jetzt die sogenannten Sozialdemokraten auf.

Sebastian Hartmann, SPD-Politiker aus Nordrhein-Westfalen, textete: "Die linke Sammlungsbewegung in Deutschland ist seit 1863 die SPD. Wer mitmachen möchte, kann eintreten." Ein hübsches Bonmot, aber eine Lüge.

Die SPD ist sehr vieles, aber nicht links. Schlimmer: Die SPD ist das größere Hindernis jeder linken Politik. Die SPD liegt im Fahrwasser jeder linken Politik wie ein gesunkenes Schiff. Sie versperrt die Ausfahrt ins Offene.

Es gibt keinen Aufbruch mit der SPD. Und das liegt nicht am Personal.

Wie heißen die Leute an der Spitze? Schahles? Nolz? Das ist ganz gleich. Denn die SPD macht aus anständigen Sozialdemokraten Verlierer und Verräter. Daran lässt sich jetzt nichts mehr ändern. Das sitzt viel zu tief.

Man sieht das an jemandem wie Kevin Kühnert. Der war ein entschiedener Gegner der Großen Koalition und man konnte ihn für einen Erneuerer in einer Partei halten, die Erneuerung so dringlich braucht. Aber die SPD redet eben nur von Erneuerung, sie sucht sie nicht.

Am Fall Kühnert kann man lernen, wie die SPD ihren Nachwuchs in den politischen Sandkasten setzt und so lange mit Reförmchen spielen lässt, bis aus einem jungen, enthusiastischen Sozialdemokraten ein trotzig-beharrlicher, bewegungslos-starrer Parteisoldat geworden ist. Dieses Lederne, diese saure Rechthaberei, das lernt sich in langen Jahren.

Die SPD bindet immer noch zu viele Wähler, zu viel politische Energie, zu viel Loyalität, zu viel verzweifelte Hoffnung. So bitter das ist: Ende und Auflösung der SPD wären eine Befreiung für eine Politik, die eine bessere Gesellschaft will.