Karl Nolle, MdL

freitag, Ausgabe 36/2018, 05.09.2018

„In der Sammlungsbewegung steckt eine Chance“

 
Interview: Die SPD sollte schon aus Eigeninteresse mit „Aufstehen“ zusammenarbeiten, sagt Flensburgs OB Simone Lange – und spricht darüber, was sie und Sahra Wagenknecht eint

Im Frühjahr 2018 trat sie als Hoffnung vieler Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten an, um ein erneutes schwarz-rotes Bündnis im Bund zu verhindern und Andrea Nahles bei der Wahl um den SPD-Parteivorsitz herauszufordern. Flensburgs Oberbürgermeisterin Simone Lange erhielt beachtliche 27,6 Prozent, unterlag – und kämpft weiter um eine Erneuerung der Sozialdemokratie, jetzt als Mitinitiatorin der linken Sammlungsbewegung "Aufstehen". Sie ist Mitunterzeichnerin einer „ Erklärung von Sozialdemokrat*innen zu #aufstehen“. Bevor die Sammlungsbewegung an diesem Dienstag in Berlin ihren Gründungsaufruf vorstellte, sprach Simone Lange mit Freitag-Autor Wolfgang Michal.

„Ich war am Samstag auf einer Demonstration hier in Flensburg zum Thema „Seebrücke“ und war erstaunt, wie viele Menschen auf mich zugekommen sind und gesagt haben, das finden sie toll“

Zur Person

Simone Lange, 41, wuchs in Rudolstadt in Thüringen auf. Die Diplom-Verwaltungswirtin arbeitete zwischen 1999 und 2002 als Kriminalbeamtin in Flensburg. Seit 2017 ist sie Oberbürgermeisterin der Stadt. Zuvor, zwischen 2012 und 2016, war die Mitglied des Schleswig-Holsteinischen Landtages. Anfang 2018 bewarb sie sich als Gegnerin einer erneuten Großen Koalition im Bund um den Bundesvorsitz der SPD; sie erhielt 27,6 Prozent der Stimmen und unterlag damit Andrea Nahles.

der Freitag: Frau Lange, wann haben Sie sich entschieden, die Sammlungsbewegung „Aufstehen“ zu unterstützen?

Simone Lange: Ich habe mich zunächst mit der Idee auseinandergesetzt. In meinen Augen ist es eine Initiative, die eine Bewegung erst noch werden möchte. Ob sie entsteht, bleibt abzuwarten, aber die Initiative dazu finde ich absolut begrüßenswert. Deswegen habe ich mich vor einigen Wochen entschieden, sie zu unterstützen.

Wer hat Sie angesprochen?

Sahra Wagenknecht. Sie hat mir die Idee vorgestellt, dann haben wir uns persönlich kennengelernt und viel diskutiert. Ich habe gesagt, was ich für unabdingbar halte. Es darf keine nur auf Wagenknecht zugeschnittene Initiative sein. Es braucht immer kluge Köpfe, die etwas anstoßen, aber die Bewegung erzeugen andere.

Was war noch unabdingbar?

Dass von Anfang an echte Pluralität gewünscht und nicht nur zugelassen wird. Das wird schon dadurch deutlich, dass sich zwei Politikerinnen wie Sahra Wagenknecht und ich, die in der Migrationspolitik deutlich unterschiedliche Positionen vertreten, trotzdem darauf verständigen können, dass eine Bewegung nötig ist, die alle progressiven Kräfte bündelt und den Menschen ermöglicht, sich einzubringen. Wir legen kein fertiges Programm vor, sondern hören erst mal, was die Menschen zu sagen haben.

Anders als Sahra Wagenknecht würden Sie zu den Vorgängen in Chemnitz Stellung beziehen?

Klar. Jeder, der mich und meine Flüchtlingsarbeit kennt, weiß das. Daran hat sich nichts geändert. Die Übereinstimmung zwischen Wagenknecht und mir liegt viel tiefer, nämlich in der Frage: Wie schaffen wir es, den Frieden zu erhalten, die Menschenrechte zu wahren und den Hass zurückzudrängen?

Wollten Sie nicht ursprünglich die SPD erneuern?

Das eine bedingt doch das andere. Alle Parteien, die sich in einer Sammlungsbewegung treffen, haben dort die Chance, sich zu erneuern. Es geht ja mittlerweile um die Kernfrage: Wie schaffen wir es, unsere Demokratie zu erhalten und zu erneuern? Parteien, denen das eine Herzensangelegenheit ist, haben durch die Sammlungsbewegung die Möglichkeit, unabhängig vom Parteibuch mit Menschen zu reden, die sich vom Parteiensystem abgewandt haben.

Der SPD trauen Sie die Erhaltung der Demokratie allein nicht mehr zu? Sind Sie enttäuscht vom bisherigen Erneuerungsprozess?

Ja, das bin ich. Die Umfragewerte sprechen für sich. Und wenn wir auf die kommenden Landtagswahlen schauen, besonders auf die in den neuen Bundesländern im nächsten Jahr, erfüllt mich das mit großer Sorge.

Erfolgreiche Parteien sind heute oft „Bewegungen“. Halten Sie die Organisationsform Partei für überholt?

Absolut. Ich glaube, dass die Parteien den Erneuerungsprozess verpasst haben. Es sind die konservativen Strukturen, die uns hindern, die Erneuerung auf die Straße zu bringen. Wir haben immer noch in den meisten Fällen das Delegiertenprinzip, wir leben von langen Entscheidungswegen. Die seit Jahren geforderte Basisdemokratie, die mit den Instrumenten der Digitalisierung umsetzbar wäre, kommt nicht voran. Wir haben es auch verpasst, die inhaltliche Erneuerung stärker zu thematisieren: Wie steht es mit unserem Diskurs über den Sozialismus? Wie steht es mit unserem Diskurs über die soziale Marktwirtschaft? Ich sage: Der Sozialstaat ist im Grundgesetz verankert, die Marktwirtschaft ist eine freiwillige Entscheidung. Wo debattiert die SPD das? Ich glaube, dass wir mit einer Bewegung solche Debatten beschleunigen können. Es ist einfach nicht mehr die Zeit, sich zurückzulehnen und zu sagen, irgendwann schaffen wir das schon. Wir müssen die Türen jetzt öffnen, damit die Menschen wieder Vertrauen fassen. Wir müssen der Gegenpol zu dem sein, was die rechte Seite macht. Die Rechten bündeln ihre Kräfte. Deshalb wird es höchste Zeit, auf der linken Seite die Eitelkeiten und das Misstrauen abzulegen und endlich zu handeln.

Wie reagieren Ihre Genossen?

Gemischt. Es gibt natürlich die typischen Reflexe: Wie kannst du Sahra Wagenknecht unterstützen!? Ich sage dann: Hört mir doch erst mal zu. Dann könnt ihr euch immer noch eine Meinung bilden. Es geht doch nicht darum, Sahra Wagenknecht zu unterstützen, es geht um die Idee, Menschen zusammenzubringen und gleichzeitig zuzulassen, dass wir unterschiedliche Positionen in bestimmten Bereichen haben. Wissen Sie, ich bin Oberbürgermeisterin einer Stadt, ich weiß, wie sich bundespolitische Rahmenbedingungen kommunal auswirken. Der soziale und ökonomische Wandel wird am Ende immer in den Kommunen bewältigt und dort brauchen wir eine andere Politik. Die Kommunen in Deutschland sind zunehmend Konsolidierungskommunen, sie sollen aber gleichzeitig der wachsenden Ungleichheit entgegenwirken.

Unterstützen die Bürger Ihr Ja zur Sammlungsbewegung?

Ich war am Samstag auf einer Demonstration hier in Flensburg zum Thema „Seebrücke“ und war erstaunt, wie viele Menschen auf mich zugekommen sind und gesagt haben, das finden sie toll. Da merkt man, dass die Haltung der Menschen auf der Straße eine andere ist als die Haltung der Genossinnen und Genossen. Die Bürger erkennen: in der Sammlungsbewegung steckt eine Chance.

Gab es Versuche der SPD-Führung, Sie umzustimmen?

Es gab persönliche Rückmeldungen, aber so richtig fassen, was sich da entwickelt, können viele noch nicht.

Als Sie im April für den SPD-Vorsitz kandidierten haben fast 30 Prozent der Delegierten für Sie gestimmt. Fünf Monate später unterstützen Sie nun die Initiative der Fraktionsvorsitzenden einer Konkurrenzpartei. Ist das nicht ein Widerspruch?

Nein. Wir sind ja eine Organisation, die sich im Vorfeld von Parteien bewegt. Wenn man aus reiner Eitelkeit sagt, da gehe ich nicht hin, weil Sahra Wagenknecht das angeschoben hat, ist das Projekt tot. Es wäre schade um die Idee, denn ich glaube, dass die Chance, eine progressive Sammlungsbewegung zu initiieren nicht alle Tage kommt.

Die Linken in der SPD reagieren eher zurückhaltend. Außer Marco Bülow gibt es kaum offene Befürworter. Hilde Mattheis geht auf Distanz, Kevin Kühnert spricht sich gegen die Bewegung aus. Warum teilen Sie deren Bedenken nicht?

Also, erstmal zielt die Initiative nicht darauf ab, Berufspolitiker zu gewinnen, sondern auf Menschen, die sich von der Politik abgewandt haben oder noch nicht in einer Partei organisieren wollen. Deshalb wäre meine Bitte an die Kolleginnen und Kollegen in der SPD, erst mal zu beobachten und sich ein abschließendes Urteil noch offenzuhalten. Das Risiko, dass es am Ende nichts wird, hat man immer im Gepäck, aber den Versuch ist es wert. Es geht schließlich darum, rechten Aufmärschen wie in Chemnitz etwas entgegenzusetzen. Dafür braucht es niedrigschwellige Angebote, Orte, an denen man gemeinsam darüber nachdenkt, wie Demokratie verteidigt werden kann. Es bringt aber auch nichts, diejenigen, die in Chemnitz mitgelaufen sind, pauschal als Nazis zu bezeichnen.

Könnte aus Ihrer Bewegung auch eine Partei entstehen?

Es ist zu früh, darüber nachzudenken. Erst mal muss die Initiative eine Bewegung werden. Dann kann man sich weitere Schritte überlegen. Wird die Frage nach der Partei zu früh beantwortet, kann das viel kaputt machen.

Historisch betrachtet waren ähnliche politische Initiativen nicht sehr erfolgreich. Als sich die USPD 1917 von der SPD trennte – oder 1931 die SAP –, hofften viele, sie könnten die Mutterpartei durch Druck von links re-sozialdemokratisieren. Ist das auch Ihre Hoffnung?

Ja, natürlich. Ein Bündnis, eine Bewegung, eine Initiative kann den Anstoß geben, Debatten über Grundsatzfragen wieder zu öffnen, aber das betrifft nicht nur die SPD. Wir haben eine riesige Lücke im Bereich des Liberalismus. Wo ist denn das sozialliberale Denken in diesem Land?

Bei den Grünen?

Kann sein, aber auch die Sammlungsbewegung sollte sich darum kümmern. Wenn sich sozialliberal denkende FDP-Mitglieder von uns angesprochen fühlen, ist das genauso erwünscht.

In der Endphase der Weimarer Republik kam es nicht zur Sammlung, sondern zur Zersplitterung der Parteien. Könnte die Sammlungsbewegung nicht einen ähnlichen Spaltungsprozess in Gang setzen?

Eine Spaltungsbewegung darf sie definitiv nicht werden. Wenn wir berücksichtigen, welche Parteien derzeit im Parlament sitzen, und wenn wir den Anspruch haben, neue Ideen in die Parteien zu tragen, um diese zu stärken, dann ist das ein ganz anderer Ansatz als damals. Ich weiß, es ist ein schwieriges Unterfangen, aber im Moment sehe ich keine andere Chance. Die Alternative wäre, dass die Parteien so weiter machen wie bisher. Da wird mir angst und bange.

Aber wenn die Sammlungsbewegung nicht wählbar ist, haben die Bürger doch keine echte Alternative?

Es sei denn, die SPD regeneriert sich, weil sie sagt, wir haben verstanden, wir verändern uns. Es liegt bei den Parteien, wie sie mit der Sammlungsbewegung umgehen, ob sie das Angebot annehmen oder nicht. Letzten Endes muss die SPD ein Interesse daran haben, dass sich keine neue Partei neben ihr gründet. Deshalb sollte sie, schon aus Eigeninteresse, mit der Sammlungsbewegung zusammenarbeiten. Wenn eine Partei die Sammlungsbewegung abstößt, dann wächst in der Bewegung die Neigung zu sagen, na gut, dann werden wir eben eine eigene Partei. Dann verhärten sich buchstäblich die Strukturen.

Was ist, wenn die SPD-Führung einen Unvereinbarkeitsbeschluss fasst? Dann sind Sie vor die Wahl gestellt: entweder das Projekt „Aufstehen“ oder die SPD zu verlassen. Wie würden Sie sich entscheiden?

Die Frage kann ich heute noch gar nicht beantworten. Ich will erst mal sehen, wie sich die Sammlungsbewegung entwickelt. Ich unterstütze sie, aber ich prüfe auch immer, ob ich mit meinen Positionen noch dazupasse, ob es einen Punkt gibt, an dem ich das nicht mehr vertreten kann. Das gilt für meine SPD-Mitgliedschaft übrigens genauso. Ein Unvereinbarkeitsbeschluss wäre – gerade angesichts der Geschichte der Linken – ein fatales Signal.