Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, 27.10.2018

Volksparteien ohne Volk

 
Ein nicht zur Veröffentlichung geschriebener Leserbrief. Ein Beitrag von Wolfgang Schaller aus der Reihe „Satirischer Nachschlag“.

Verehrter Autor, Sie wollten sich nicht zu Wort melden, und so muss ich es für Sie tun, weil wir in Zeiten leben, in denen man den Mund aufmachen muss, auch wenn mir die Worte fehlen. Die Regierenden wehklagen, dass sie vom Volk nicht geliebt werden. Ja, wie denn? Wofür denn? Warum sollen wir euch denn wählen? Dafür, dass ihr mit eurem machtverliebten Gezänk allen Anstand fahren lasst und einer gegen den anderen tritt, statt zurückzutreten?
 
Dass ihr das Wahlvolk um Gunst anbettelt, indem ihr mit den Grenzwerten mogeln wollt, damit die Dieselfahrer nicht wegen Fahrverbot zu Fuß sich durch den Feinstaub husten müssen? Statt dass ihr die Autokonzerne verpflichtet, für den Schaden geradezustehen statt ihn mit neuen Gewinnen auf eure Kosten auszusitzen. Der Betrogene soll büßen statt der Betrüger? Schämt ihr euch nicht? Dass unsere Schulen aussehen, als hätte sie gestern der Russe bombardiert? Dafür versprecht ihr nun, um unsre Stimme zu erkaufen, endlich ein paar Millionen. Warum jetzt erst? Regiert ihr nicht schon ein Jahrzehnt? Schenkt den Schülern die Paläste der Banken zum Lernen und lasst die Banker ihr Geschäft auf den Schulklos verrichten. Die Kinder werden’s euch danken.

Habt ihr nicht versprochen, Steuersümpfe trockenzulegen, seit auf einem Inselparadies nach einem Erdbeben hundert tote Briefkästen zu beklagen waren? Und nun haben Banker und Investoren sich unter dem kumpelhaften Namen Cum-Cum allein in Deutschland 32 Milliarden Steuergelder zugeschoben, was nicht ihr Politiker aufgedeckt habt, sondern Journalisten.

Schämt ihr euch nicht? Dafür, dass der Vorstand der Deutschen Post 200-mal mehr verdient als ein Paketausträger? Sollen wir euch wählen, weil in den Heimen Alte wund dahinsiechen, weil den mies bezahlten Pflegekräften für die Unterbodenwäsche nur fünf Minuten bleiben? Stehen in euren Parteinamen nicht die Worte sozial und christlich? Das merkt ihr erst jetzt?

Ihr habt die Banken mit 70 Milliarden gerettet und im gleichen Zeitraum den Kleinsparer mit eurer 0-Zins-Politik um Milliarden betrogen. Wenn die Welt eine Bank wäre, es gäbe keine Armut. Dass es in diesem reichen Land Tafeln geben muss, um die Ärmsten mit einem warmen Essen zu speisen, welch eine Schande! Ihr lasst zu, dass in den Großstadtzentren die alleinstehende Mutter samt Kind auf die Straße gesetzt wird, weil die Mietwucherer das tun, was sie in einem vom Geld diktierten System tun müssen: wuchern. Denn diese Unordung hat einen Namen: Kapital is muss!

Haben Sie, verehrter Autor nicht geschrieben, der Sozialismus sei untergegangen, weil er keiner war, und der Kapitalismus wird untergehen, weil er einer ist. Und nun schweigen Sie, obwohl Sie viel bessere Worte finden würden mit Ihrem Witz statt ich mit meiner Wut, die wächst, wenn ich sehe, wie aus blindem Protest Hass und Gewalt im Lande aufmarschieren.

Nur eins noch: Ihr verbiegt euch in moralischem Bauchweh, ob man den Saudis weiterhin Waffen verkaufen dürfe, nachdem sie einen Journalisten gelyncht haben. Welch Heuchelei. Wird nicht seit Langem gemordet in einem wüsten Jemenkrieg, in dem 14 Millionen Menschen zu verhungern drohen? Ohne dass wir hinschauen, weil unsere Gazetten den Platz brauchen für den Babybauch einer Prinzessin.

Nein, verehrter Autor, mir geht es nicht schlecht, ich liebe dieses Land. Aber ich möchte, dass die Regierenden die Zukunft planen und nicht nur die Vergangenheit verwalten. Mehr Gerechtigkeit und politischen Anstand zu fordern, ist nicht links – das ist lediglich anständig. Ihr Leser.

Der Autor erklärt, dass er sich dieser pessimistischen Zustandsbeschreibung nicht anschließen kann. Er würde sich in jedem Falle widersprechen. Ihm ist seine eigene Meinung schon zu oft im Wege gewesen. Er will sie nicht mehr haben. Er macht sich damit nicht nur bei anderen unbeliebt, sondern auch bei sich.

Unser Kolumnist ist Kabarettist, Autor und künstlerischer Beirat der Dresdner Herkuleskeule.