Karl Nolle, MdL

Freitag- Die Ost-West Wochenzeitung, 03.08.2001

Günter Gaus: Entschuldigung

Der 13. August 1961 und das kollektive Gewissen
 
Hätte sich Konrad Adenauer dafür entschuldigen sollen, dass er Hans Globke, den amtlichen Kommentator der barbarischen Nürnberger Juden-Gesetze, zum Staatssekretär im Bonner Kanzleramt und zu einem seiner engsten Mitarbeiter gemacht hat? Die Frage ist nicht unbedingt sinnlos, aber sie ist gewiss nicht von dieser Welt. Konrad Adenauer, wie seine Zeitgenossen ihn kannten, hätte sie gar nicht begriffen: Erstens war er von zynischer Souveränität, wenn es um machtvolle Verbindungen ging, und Globke gehörte zu einer solchen Seilschaft, nicht von Nazis, aber von korporierten Katholiken. Zweitens entstammte Adenauer einer Zeit, in der Gewissensnöte, Schuldbewusstsein, Reue, Bußfertigkeit nicht zu Markte getragen wurden. Beneidenswert.

Ob dem ersten Bundeskanzler im Alter gelegentlich dunkle Gedanken kamen, wer kann es sagen? Über die Deutschen jedenfalls, wenn sie erst wieder Soldaten hätten, hat er sich Sorgen gemacht. Aber der Wesensunterschied zwischen selbstkritischer Prüfung vor sich allein und öffentlichem Widerruf war seinerzeit allen aufgeklärten Menschen bewusst. Adenauer hätte sich gegebenenfalls darauf berufen, dass ein bedeutender zivilisatorischer Fortschritt die machtpolitisch zweckmäßige Instrumentalisierung von Schuld- und Gewissensfragen ebenso überwunden habe wie den Pranger abgeschafft. Der Fortschritt hat allerdings immer seine Ausnahmen. Der Stalinismus hat von der katholischen Kirche den öffentlichen Widerruf übernommen, und der Umgang mit den Stasi-Akten hat dem Pranger wieder einen Platz in der deutschen Öffentlichkeit eingeräumt.

Sollte die CDU - das deutsche Volk, die Opfer des deutschen Volks? - um Entschuldigung bitten, weil sie Kurt Georg Kiesinger, erst NSDAP, dann CDU, vor 34 Jahren im Bundestag zum Kanzler gewählt hat? Zwar steht die CDU zu ihrer Vergangenheit in allen ihren Teilen, also auch zu Kiesinger samt seiner Mitgliedschaft in Hitlers Partei. Aber das Verlangen, sie möge sich wegen Kiesinger entschuldigen, um so ihre politische Moral nachzuweisen, ist dennoch schwachsinnig; dafür muss es jedenfalls unter Vernünftigen gelten. Die Frage, ob Adenauer eine etwaige späte Reue wegen seiner Skrupellosigkeit bei Globkes Reaktivierung hätte bekennen sollen, bezieht sich auf eine einzelne Person. Aber ein Kollektiv, in diesem Falle die CDU, soll seine Glaubwürdigkeit erhöhen durch eine Entschuldigung? Was ist das - ein kollektiviertes Gewissen?

Berliner Wahlkampf-Motto: Freiheit statt Marzahn

Eine solche Forderung kann außer Schwachsinn nur zwei andere Gründe haben: Naivität oder Infamie. Unter bestimmten Umständen kann die Infamie mit dem Schwachsinn eine bösartige Verbindung eingehen. Das Zusammentreffen des 40. Jahrestages der Errichtung der Berliner Mauer am 13. August mit dem Berliner Wahlkampf, auch einer Art von Mauerbau - Motto: Freiheit statt Marzahn -, ist für eine solche Mixtur überaus geeignet.

Der Bau der Berliner Mauer 1961, für den sich die PDS öffentlich entschuldigen soll, sei etwas anderes als der Fall Kiesinger? Wohl wahr. Mit nur etwas Bosheit kann man argumentieren, Mitglieder der CDU in der BRD hätten bei weitem risikoloser und mit erheblich mehr Erfolgsaussichten wegen Kiesingers Kanzlerschaft aufmucken können als Genossen der SED oder Parteigänger der bürgerlichen Christ-, Liberal- und Nationaldemokraten in der DDR gegen den Mauerbau. Entschuldigung.

Aber ohne jede Spitzfindigkeit lässt sich sagen: Bundeskanzler Adenauer hätte sich durchaus bei den Westberlinern entschuldigen sollen, was damals auch viele meinten, weil er sich nach dem Mauerbau ein paar Tage Zeit gelassen hatte, bis er zu einem Abstecher in die abgeschnittene Teilstadt kam. Er befand sich im Bundestagswahlkampf und wollte wohl erst abwarten, wie sich die Situation entwickelte.

Als erprobter Realist und begabter Agitator erkannte er dann die günstige Konstellation: Die gefährliche Lage in Berlin (Brandt: Der Krieg lag auf der Straße) war dank dem Stillhalten der Westalliierten entschärft und stabilisierte sich bald. Adenauers westdeutsche Wähler konnten gewiss sein, dass der Bundeskanzler wegen Berlin nicht bei den verbündeten Besatzungsmächten vorstellig werden würde, sie möchten an der Mauer rütteln, und konnten sich daher unbesorgt mit ihm in folgenloser Empörung finden. In West-Berlin wurde Adenauer, als er schließlich kam, maßvoll ausgepfiffen. In Westdeutschland, so erinnere ich mich genau, war das erleichterte Aufatmen nach dem 13. August 1961 fast allgemein. Der Krieg lag erst sechzehn Jahre zurück; was ein Krieg im Land bedeutet, war noch in jedermanns Bewusstsein. Ansehnlicher ist die historische Wahrheit nicht. Wünscht noch jemand, sich zu entschuldigen?

Sollte sich die Kommunistische Plattform für Karl Marx entschuldigen?

Des Deutschen Vaterland ist größer geworden - Deutschland hat die DDR dazu gewonnen -, seine Muttersprache aber leidet an Auszehrung und Sinnverlusten. Diese Feststellung ist nicht beeinflusst von deutschtümelndem Sprachpurismus. Soll man getrost Kids sagen, wo man Kinder sagen könnte; und die love parade mag eher ein Event sein als ein Ereignis. Bedenklich ist, dass zunehmend Wörter, Begriffe im politischen Sprachgebrauch um ihren Sinn, um ihre Genauigkeit gebracht werden. Sie erstarren zu einem Klischee, das nach der Willkür der Meinungsmacher einer tonangebenden Mehrheit etwas politisch Brauchbares möglichst eingängig benennen soll. Zu diesem Zweck wird bei Bedarf ein Wort, ein Begriff ohne Scheu verhunzt. Erstickt. Dieser Missbrauch der Sprache erleichtert die Manipulation erheblich um den Preis von Feinheiten, von Wesensmerkmalen der Muttersprache. Es gibt mehrere solcher Fälle; hier ist von dem Wort »Entschuldigung« die Rede: von einem in ein Wort gefasstem kaudinischen Joch.

Wolfgang Schäuble kann sich entschuldigen vor dem Parlament, weil er es getäuscht hat. Helmut Kohl sollte sich besser nicht entschuldigen für seine unsaubere Spendenpraxis; eine Bitte um Entschuldigung muss einigermaßen glaubhaft sein. Wäre es sinnvoll, wenn sich die Kommunistische Plattform, ohnehin an allem Schuld, dafür entschuldigte, dass es Karl Marx gegeben hat?

Zur Wendezeit, im Jahr 90, als der Sozialismus aus der real existierenden Welt entschwand, erschien in Deutschland eine Karikatur, die Marx mit verlegenem Lächeln zeigte. Er sagte: »Entschuldigung, Jungs. Es ist nur so eine Idee von mir gewesen.« Seinerzeit lag die Pointe auf der Hand: Die Karikatur bezog ihre Wirkung aus der Unverhältnismäßigkeit des eher beiläufigen, achselzuckenden Bedauerns gegenüber den welterschütternden Folgen der marxistischen Glaubenslehre. Als sei ein Herr einer Dame in der S-Bahn auf den Fuß getreten: »Entschuldigung, gnädige Frau. Es hat hoffentlich nicht weh getan.« Wie eben der gesellschaftliche Umgang gewöhnlich war, bevor der Grobianismus und das Ordinäre den Ton angaben.

Was sollte heute an der Karikatur noch witzig sein? Das Wort »Entschuldigung« ist inzwischen aus dem höflich-konventionellen Verkehrston zum Schlüsselwort der Vergangenheitsbewältigung aufgestiegen, wie sie hier zu Lande öffentlich praktiziert wird. Die PDS soll sich gefälligst entschuldigen für die Berliner Mauer. Als ob man sich dafür »entschuldigen« könnte. Ich kenne einige Kommunisten, einst SED, heute ein paar von ihnen, nicht alle, in der PDS, Männer wie Frauen, die sich zum Teil selbstquälerisch mit Fragen nach der Vergangenheit plagen. Wodurch ist ihr wohlbegründetes, nach allem, was gewesen war, hoch gerechtfertigtes Vorhaben nach 1949 im Laufe der Zeit verdorben worden, warum ist es verloren gegangen? Welche Fehler waren systembedingt, unvermeidlich, und welche von ihnen rührten aus menschlichen Schwächen her, aus falsch verstandener, auch opportunistischer Parteidisziplin? Aber sich für die gesamtdeutsche Geschichte der Berliner Mauer entschuldigen? Die, die sich mit ihrem Gewissen abmühen, die ihre Träume kritisch prüfen, sind ratlos vor einem solchen Verlangen.

Aber womöglich tue ich Steffel, CDU, und den Seinen, die auf die Entschuldigung pochen, unrecht. Ich bitte um Entschuldigung. Vielleicht besitzen sie nur ein geringes Sprachempfinden und freveln also fast ahnungslos? Vielleicht haben sie wenig historische Kenntnisse und eine Vorstellung von Schuld, die über die von Pontius Pilatus vor seinem Handwaschbecken nicht hinaus reicht? Wie vorteilhaft für sie im politischen Geschäft.



FREITAG Spezial zum 13. August 1961