Karl Nolle, MdL

Der Spiegel - Nr. 33, 13.08.2001

Die Hoffnungsträger des Kanzlers im Osten

Der Kanzler braucht Ersatz für seine farblosen Ostminister Bergmann und Schwanitz - die Basis empfiehlt ihm immer offener eine Troika unverbrauchter, erfolgreicher Genossen
 
Der sächsische SPD-Landtagsabgeordnete Karl Nolle ist ein Freund der deutlichen Aussprache. Das spürte zuletzt Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU). Über Monate piesackte ihn der Drei-Zentner-Mann mit peinlichen Fragen zu Miete und Dienstboten, der Landesvater geriet darüber in arge Bedrängnis. Nun hat sich Nolle die eigene Partei vorgenommen.

Nur einem, ließ Nolle die SPD wissen, könne es gelingen, bei der Landtagswahl in drei Jahren die CDU-Festung Sachsen zu schleifen: dem Leipziger Oberbürgermeister (OB) Wolfgang Tiefensee, 46. Der müsse folglich schon jetzt zum Spitzenkandidaten aufgebaut werden, schließlich gäbe es nicht viele in der Sachsen-SPD, „die Macher und Sympathieträger sind".

Das war lange nicht nur ein Defizit der sächsischen, sondern der gesamten ostdeutschen Sozialdemokratie. Allein der Potsdamer Oberbürgermeister und brandenburgische SPD-Chef Matthias Platzeck, 47, den das Oderhochwasser 1997 in den Blickpunkt einer bundesweiten Öffentlichkeit spülte, wurde bislang für höhere Aufgaben gehandelt. Hinzu kommt neben Tiefensee nun auch noch der Thüringer Christoph Matschie, 40, der sich seit 1990 still und leise im Bundestag nach vorn gearbeitet hat. Die drei werden als zukünftige Landesregenten gehandelt aber auch für einen Job im Dienste des Kanzlers.

Die Troika hat, was der sonst so farblosen Ost-SPD fehlt: das TV-Siegerlächeln der neuen Mitte, den cleanen Pragmatismus der Schröderschen Sozialdemokratie. Und diese Talente sind womöglich schon im nächsten Jahr gefragt. Denn der Kanzler, dessen Ruf als Macher angesichts der unverändert hohen Arbeitslosenzahlen von Anklam bis Zittau schwindet, braucht für den Osten einen zweiten Schwung - vor allem aber neue Ostler für sein Kabinett.

Die jetzigen, Familienministerin Christine Bergmann und der Kanzleramtsminister für den Aufbau Ost, Rolf Schwanitz (Genossenspott: „Schwantnix"), gelten nicht gerade als Aktivposten - wo sie auftreten, springt kein Funke über. Das ist bei der jungen Ostgarde in der Warteschleife ganz anders. Sie können sich inszenieren - und das gefällt dem Medienkanzler.

Als BMW dem Werben Tiefensees erlegen war und sich für Neuansiedlung und Milliardeninvestition in Leipzig entschieden hatte, lud der gelernte Elektroingenieur spontan seine Bürger zum Freibier ins Rathaus ein. Der OB zapfte selbst. Das hätte der Bundeskanzler und PR-Profi Gerhard Schröder („Hol mir mal 'ne Flasche Bier!") nicht besser hingekriegt.

Tiefensee geht es womöglich bald wie Platzeck. Immer wieder forcierte Schröder die Gerüchte um dessen Wechsel in sein Kabinett: Mal traf er sich mit ihm beim Italiener in Potsdam, mal titulierte er Platzeck als „Einstweilen-Oberbürgermeister". Der Umworbene („Schröder zerrt") sitzt derweil in seinem Amtszimmer und sagt, dass er über 2002 hinaus in Potsdam bleiben wolle. Er habe Zeit: „Ich ziehe meinen Frohsinn nicht nur aus der Politik."

Nur kleine Andeutungen verraten, dass den bekennenden Schröder-Fan eine neue Aufgabe schon reizen würde - „ein wenig unlösbar" müsste sie sein, meint er. So war das auch damals, als er 1998 den Job des brandenburgischen Umweltministers mit dem des Krisenmanagers im Potsdamer Rathaus tauschte.

Während die beiden Bürgermeister nach außen so tun, als sei der Posten eines Stadtschutzes der Gipfel ihrer Polit-Karriere, hantiert der Thüringer Matschie, ganz der junge Schröder, offen mit seinen Ambitionen. Der in Klimmzügen erfahrene, passionierte Free-Climber macht als Kritiker verzopfter SPD-Sozialpolitiker im „Netzwerk 2010" auf sich aufmerksam. Darunter haben sich junge Sozialdemokraten zusammengefunden, die noch was werden wollen.

Der Einsatz des Nachwuchses aus der Ostprovinz in der Hauptstadt wird auch von der Basis immer deutlicher gefordert. „Platzeck wäre eine Bereicherung für das Bundeskabinett", meint Mathias Schubert, Ostbeauftragter der SPD-Bundestagsfraktion: „Schröder sollte ihn holen."
„Eine Hineinnahme von Tiefensee ins Schröder-Kabinett", sagt Nolle, „böte die Chance für eine neue konsequentere Vertretung ostdeutscher Interessen in Berlin." Am geeignetsten wäre, glaubt der Sachse, der Posten des Ostbeauftragten Schwanitz, „der dazu neigt, seinem Chef die wirklichen Ausmaße der Ostmisere schonungsvoll vorzuenthalten". Tiefensee dagegen würde „Schröder keine Potemkinschen Dörfer vorspielen".

Matschies Thüringer Weggefährten wünschen sich den gelernten Mechaniker, der Theologie studierte, weil ihm in der DDR das Medizinstudium verwehrt wurde, als Staatssekretär im Umwelt- oder Verkehrsministerium. Ganz selbstbewusst sagt Matschie: „Eine Aufgabe im Kabinett wäre doch für jeden reizvoll."

Matschie und Tiefensee, so das Kalkül im Osten, könnte ein Ritterschlag durch den Kanzler auch beim Kampf um die Macht in ihren CDU-regierten Ländern helfen. Zumal hier die mögliche Annäherung von CDU und PDS die Lage für die SPD nicht einfacher macht. „Aus dem Bundeskabinett heraus", so ein führender Genosse der Dresdner SPD-Landtagsfraktion, „könnte Tiefensee noch wirkungsvoller um das Amt des Ministerpräsidenten kämpfen."

Ohnehin mögen, ob Sozial- oder Christdemokraten, fast alle Sachsen den praktizierenden Katholiken, der allerdings aufs Beichten verzichtet - wahrscheinlich weil er nie sündigt. Der CDU gilt Tiefensee, der auch politisch kaum klar zu orten ist, deshalb schon als Angstgegner.

In der letzten Woche meldeten sowohl Umweltminister Steffen Flath, ein Biedenkopf-Zögling, als auch der von Biedenkopf geschasste Ex-Finanzminister Georg Milbradt ihre Kandidatur für den Landesvorsitz und damit für die Biedenkopf-Nachfolge an. Mitte September soll der Parteitag entscheiden.

Doch keiner der beiden Bewerber findet ungeteilte Zustimmung. Tiefensee, so scherzte neulich ein sächsischer CDU-Grande, sei „allen möglichen Kandidaten aus den eigenen Reihen vorzuziehen"
(Andreas Wassermann, Steffen Winter)