Karl Nolle, MdL

NachrichtenRadio MDR info, Life-Interview Freitag um 12:02 Uhr, 24.11.2000

+++Text des Life-Interviews mit Nolle zu: Biedenkopf und der Rechtsterrorismus

Was sind die Gründe für die Zurückhaltung des Ministerpräsidenten
 
DRESDEN/HALLE. Ein Generalstaatsanwalt, der Aufklärung einstellt, ein Innenminister der verharmlost, ein Ministerpräsident, der fragwürdig zurückhaltend reagiert beim Thema Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus, ein Verfassungs- und Rechtsausschußvorsitzender mit rassistischen Reden und eine Abgeordnete, die einen Beitrag der Opposition als "entartete Kunst" bezeichnet - Sachsen, wo liegt dieses Land? Liegt es nicht mitten in Europa? Der folgende Text ist ein leicht sprachlich aber nicht inhaltlich bearbeiteter Mitschnitt des Life-interviews vom 24.11.00 12.02 Uhr.

TIM DEISINGER, MDR: Herr Nolle es hieß ja bisher immer, es gab bisher keine Anhaltspunkte für die Behörden, daß es sich (beim Tod des sechsjährigen Joseph) um eine rechtsradikale Gewalttat handelt. Nach ihren Recherchen stimmt das möglicherweise nicht so ganz.

KARL NOLLE: Also ich kann zwei Dinge dazu sagen: Erstens hat es laut Frankfurter Rundschau Sommer 1998 eine Erklärung vom Generalstaatsanwalt in Dresden gegeben, wo er sagte, daß der Unfall nicht aufgeklärt werden konnte, daß er aber ein Fremdverschulden ausschließt. Dies ist für mich völlig unverständlich. Wenn etwas nicht aufgeklärt werden kann, kann auch nicht ausgeschlossen werden, daß ein Fremdverschulden vorliegt. Genau das muss man ihm vorwerfen. Das ist wieder erneut eine wirklich bedenkenswerte negative Rolle dieses Generalstaatsanwaltes. Ich denke, daß wir als SPD-Fraktion eine Sondersitzung des Rechtsausschusses des Landtages beantragen werden und dort vor allem, auch diese personellen, Konsequenzen, fordern werden, die natürlich dem kleinen Joseph nachwirkend nicht mehr helfen.

TIM DEISINGER, MDR: Dies ist die eine Sache und dann gibt es in ihrer Fraktion noch die Suche nach einem Brief, sagen Sie ein bisschen mehr dazu.

KARL NOLLE: Der ehemalige Abgeordnete Richter, der leider vor 14 Tagen verstorben ist, soll einen solchen Brief an die Staatsregierung geschrieben haben, dessen Inhalt sein soll, er habe Anhaltspunkte dafür, daß der Junge nicht eines natürlichen Todes gestorben sei. Wir suchen den Brief. Leider ist das durch den Tod des Abgeordneten im Moment etwas erschwert. Wir gehen aber davon aus, daß wir diesen Brief noch finden werden.
Unabhängig davon ist aber zu reklamieren, daß endlich Schluß sein muß mit der Verharmlosung der rechtsradikalen und rechtsterroristischen Gewalt in Sachsen, wie erst vor wenigen Wochen im Landtag, von Innenminister Hardraht aber auch von unserem Ministerpräsidenten Biedenkopf praktiziert. In ihren Erklärungen werden diese Dinge ständig verharmlost. Sie werden runtergeredet. Sie werden kleingeredet und dieses ist für uns nicht länger hinnehmbar. Es ist nicht hinnehmbar! Und ich hoffe auch, daß diese fragwürdige Zurückhaltung, die hier stattfindet, was die Rechtsradikalität angeht, nichts mit der eigenen nationalsozialistischen Familientradition von Kurt und Ingrid Biedenkopf zu tun haben, die ja darin selber in ihrer Familie tief verstrickt waren. Sie selber persönlich nicht, aber ihre Eltern (Vater und Schwiegervater). Und ich denke, daß das erst recht Anlass sein müsste, für den Ministerpräsidenten, sich ganz entschieden und deutlich auf die Seite derjenigen zu stellen, die gegen diese Rechtsradikalität vorgehen und vorgehen wollen.

TIM DEISINGER, MDR: Herr Nolle, lassen sie mich ganz kurz noch mal auf den Brief zurückkommen. Das ist schon eine ganze Weile her. Haben sie noch Erinnerungen an mögliche Reaktionen, die es damals gegeben hat?

KARL NOLLE: Nein, daran habe ich keine Erinnerungen. Ich bin jetzt selber erst ein Jahr im Sächsischen Landtag und habe die Erinnerungen daran nicht. Aber wir werden diesen Brief sicherlich finden.

TIM DEISINGER, MDR: Dann wird eine SPD-Fraktionssitzung, eine Rechtsauschusssitzung, die Sie beantragen wollen sicherlich keine ganz praktischen Konsequenzen für die Politik bedeuten. Was kann da noch passieren?

KARL NOLLE: Also die Sondersitzung des Rechtsausschusses des Landtages kann sich schon – der Landtag ist ja schließlich sehr souverän - sowohl mit der Rolle des Generalstaatsanwaltes, wie aber auch mit der Rolle des Innenministers und auch des Ministerpräsidenten, die ja in diesen Fragen immer eng zusammen arbeiten, befassen. Denn das was z.B. an Erkenntnissen da ist, über die ja quasi paramilitärischen Übungen der SSS in der Sächsischen Schweiz, was an polizeilichen Erkenntnissen, auch aus Pirna und aus dem Kreis Pirna da ist, ist eklatant und ungeheuerlich aber es wird ständig verharmlost und dieses muß offen angegangen werden. Und ich denke, es muß auch personelle Konsequenzen haben beim Minister und beim Generalstaatsanwalt, der ja jetzt schon fast jede Woche im Kreuzfeuer steht.

TIM DEISINGER, MDR: Und muss das nicht auch noch ein bisschen eine Ebene runter gehen, weil die Erkenntnisse, die die Mutter über die Jahre hinweg gesammelt hat, die hätte doch eigentlich die Polizei, deren Aufgabe das ja eigentlich ist, doch genauso gut sammeln können.

KARL NOLLE: Es ist einerseits die Aufgabe der Polizei aber auch andererseits die Aufgabe der Staatsanwaltschaft, der verschiedenen Staatsanwälte, der leitenden Oberstaatsanwaltschaft und des Generalstaatsanwaltes, dafür zu sorgen, dass die Ermittlungen in entsprechender Form auch konsequent durchgeführt werden. Aber wenn der Generalstaatsanwalt selber erklärt, daß einerseits der genaue Hergang des Unglücksfalles nicht geklärt werden kann, aber dann trotzdem noch ausschließt, daß Drittverschulden möglich ist, ja dann versteht das kein Mensch. Das kann nicht sein! Entweder die Sache ist nicht geklärt, da kann man dann auch davon ausgehen, daß auch Drittverschulden möglich ist, oder es ist geklärt und dann kann man davon ausgehen, daß Drittverschulden nicht zutreffend ist. Das ist genau diese falsche Politik, keine unbekannte, die wir hier geißeln müssen.

TIM DEISINGER, MDR: Wie ist das denn interpretiert? Ist das jetzt nur Faulheit, Schlampigkeit oder ist das, sind diese beiden Bezeichnungen eher noch eine Verharmlosung? Ist da wirklich von Blindheit auf dem rechten Augen auszugehen?

KARL NOLLE: Es ist Blindheit, es ist fragwürdiges Kleinreden und fragwürdige Zurückhaltung. Wir haben immer wieder in Diskussionen, auch mit manchem Polizisten oder Polizeidirektor, beispielsweise in Pirna erfahren, daß ihnen völlig unklar ist, warum - obwohl dem Ministerpräsidenten und dem Innenminister diese Erkenntnisse gerade auch über die SSS Sächsische Schweiz vorliegen, und zwar seit Jahren ausführlich vorliegen – sie dieses Problem immer wieder kleinreden. Das ist offensichtlich von oben so gewollt, daß dies nicht in die Öffentlichkeit dringen soll und daß das angeblich kein Problem in Sachsen ist und damit kein Problem in Sachsen wird.

Life-Interview mit SPD-MdL Karl Nolle,
Wirtsschaftssprecher der SPD-Landtagsfraktion
TIM DEISINGER,MDR:und SPD-Obmann im Paunsdorf-Untersuchungsausschuß

Kommentar
Die vollständige Mitschrift meines Life-Interviews vom 24.11.00, 12:02 Uhr, im Nachrichtenradio MDR info liegt hier vor. Die sehr betroffen machenden Bezüge zur NS-Zeit werden in Kürze, mit weiteren Quellen untersetzt und hier dokumentiert. Vorab zwei Quellen zu Wilhelm Biedenkopf (Vater) und Fritz Ries (Schwiegervater): Engelmann, Großes Verdienstkreuz, STEIDL 1998 und Schwarzbuch Helmut Kohl, STEIDEL 2000. Beide Taschenbücher sind im Buchhandel seit 1987! bzw. 1994! erhältlich. (Arisierungskäufe von Jüdischen Unternehmen, tausende von Zwangsarbeiter/innen arbeiteten für Fritz Ries)

Die Geschichte mit Joseph war für mich, zum Zeitpunkt des Interviews, die emotionale Spitze einer Serie von rechtsradikalen und rechtsterroristischen Übergriffen, Straftaten und polizeilichen Erkenntnissen der letzten Monate, die in auffälliger Form von der Staatsregierung verharmlost und kleingeredet wurden.

Es muss gefragt und aufgeklärt werden, ob es möglicherweise dieselbe Haltung war, die MP Biedenkopf zu seiner unsäglichen Äußerung über bisher in Sachsen angeblich noch nicht Vorgekommenes (Tote und Häuserbrände) veranlasste und die den Ermittlungseifer und die Ermittlungsphantasie von Polizei und Staatsanwaltschaft lahmlegte. Die Haltung nämlich, dass das Problem in Sachsen einfach nicht sein darf.

Die Staatsregierung hat in Sachen Rechtsradikalität und Fremdenhass nicht genug getan. Zu wenige Lehrer können sich glaubhaft zu Demokratie, Rechtsstaat und Toleranz bekennen. Und von Engagierten in der Jugendarbeit ist zu hören, dass Jugendliche, die als Nicht-Rechte in sächsische Justizvollzugsanstalten kommen, nicht selten mit rechtsradikaler Haltung den Knast wieder verlassen, weil drinnen die Rechten (wohl Häftlinge) das Regiment führen.
KARL NOLLE

Siehe auch unter Karl Nolle, MEINUNGEN vom 30.11.00, Gewalt geschrien...

Hier einige Presseerklärungen der SPD-Landtagsfraktion zu dem Thema:

SPD-Landtagsfraktion
Pressemitteilung

Bereich: Ausländer- und Asylangelegenheiten
Stichwort: Jurk zu Biko-Interview
Autor: Thomas Jurk
Datum: 28.09.00
Nummer: 306

Ministerpräsident vergisst Opfer rechter Gewalt
Jurk: Biedenkopf leidet unter deutlichem Realitätsverlust


Dresden. „Entsetzt“ zeigte sich heute der Fraktionschef der SPD-Landtagsfraktion, Thomas Jurk, über den „immer deutlicher werdenden Realitätsverlust des Ministerpräsidenten.“ Biedenkopf wird heute in der Sächsischen Zeitung in einem Interview zum Rechtsradikalismus mit dem Satz zitiert „In Sachsen haben noch keine Häuser gebrannt, es ist auch noch niemand umgekommen.“ „Weiß Biedenkopf wirklich nichts von Jorge Gomondai und den anderen Fällen, in denen in Sachsen Menschen durch Rechtsradikale zu Tode gekommen sind“ fragt Jurk, „oder verdrängt er die Fakten bewusst?“ Insgesamt seien es, so die Fakten, die die Frankfurter Rundschau veröffentlicht hat, sieben Todesfälle durch Rechtsradikale Aktionen alleine in Sachsen gewesen: Mike Zerna (Hoyerswerda, 19.2.93); 5/94: namentlich nicht aufgeführter 43jähriger Leipziger; Achmed Bachir (Leipzig, 23.10.96); Bernd G. (Leipzig); Bundeswehrsoldat an sächsischem Stausee (Mai 95); Nuno Lorenzo (Leipzig, Juli 98). Vom „scheinbaren Rechtsextremismus“ zu sprechen sei eine unglaubliche Verharmlosung der Situation. Sachsen grundsätzlich als immun gegenüber der rechten Gefahr zu bezeichnen, heiße nicht mehr und nicht weniger, als völlig zu ignorieren, was in manchen Orten des Freistaates wirkllich los sei. Grundsätzlich positiv stehe, so Jurk, die SPD der angekündigten Erweiterung des Zivilrechts gegen Rechts, die Biedenkopf vorschlägt, gegenüber. Nur: „Wie lange soll der Gesetzentwurf noch angekündigt werden? Wir würden ihn jetzt ganz gerne ganz schnell im Landtag sehen.“


SPD-Landtagsfraktion
Pressemitteilung

Bereich: Innenpolitik
Stichwort: Rechtsextreme Straftaten
Autor: Hanjo Lucassen
weitere Autoren:
Datum: 21.11.00
Nummer: 366

Deutlich mehr Ermittlungsverfahren als 1999
Lucassen: Rechtsextremismus in Sachsen nicht verharmlosen


Dresden. Im Freistaat Sachsen gibt es eine starke Zunahme der Ermittlungsverfahren infolge rechtsextremer Straftaten. Allein in den ersten drei Quartalen des Jahres 2000 wurden mehr Ermittlungsverfahren eingeleitet als im gesamten Jahr 1999. Das geht aus der Antwort des sächsischen Justizministeriums zu einer Kleinen Anfrage hervor, die der sächsische SPD-Landtagsabgeordnete Hanjo Lucassen gestellt hatte. Für Lucassen haben die Zahlen vor allem zwei Hintergründe. „Einerseits gibt es nach wie vor eine hohe Zahl von Straftaten mit rechtsextremen Hintergrund. Eine Entwarnung darf es da nicht geben. Andererseits werden auch mehr strafbare Handlungen von den Bürgern zur Anzeige gebracht. Couragiertes Verhalten von Bürgerinnen und Bürgern wird dadurch deutlich, dass sie rechtsextreme Straftaten nicht dulden“ sagte Lucassen. Er warnte die Staatsregierung vor einer Verharmlosung der rechtsextremen Gewalt. Erst in der letzten Landtagssitzung hatte Innenminister Hardraht das Bild eines Freistaats skizziert, welcher im Gegensatz zur restlichen Bundesrepublik rückläufige rechtsextreme Vorfälle zu verzeichnen habe. „Die neuen Zahlen sprechen eine andere Sprache“, betonte Lucassen. Der SPD-Landtagsabgeordnete wies darauf hin, dass es auch einen Zuwachs von gewaltbereiten, rechtsextremen Skinheads in Sachsen gab. Von 1998 zu 1999 erhöhte sich deren Zahl von 900 auf 1.100 Personen. „Ein hoher Verfolgungsdruck der Polizei verbunden mit gelebter Zivilcourage von Bürgerinnen und Bürgern ist daher dringend notwendig zur Bekämpfung des Rechtsextremismus in Sachsen“, sagte Lucassen.


SPD-Landtagsfraktion
Pressemitteilung

Bereich: Innenpolitik
Stichwort: Verbot der SSS
Autor: Peter Adler
weitere Autoren:
Datum: 09.11.00
Nummer: 345

Adler: Innenminister muss sofort handeln
Sachsens SPD fordert Verbot der rechtsradikalen SSS


Dresden. Ein sofortiges Verbot der vereinsähnlichen, rechtsradikalen Organisation „Skinheads Sächsische Schweiz“ (SSS) forderte heute der Innenpolitische Sprecher der sächsischen SPD-Landtagsfraktion Peter Adler. Anders als bei Parteien ist bei Vereinen und vereinsähnlichen Organisationen der Innenminister für ein Verbot zuständig. „Wenn Minister Hardraht es mit seiner Unterstützung eines NPD-Verbotes ernst meint, dann muss er jetzt gemeinsam mit dem Justizminister auch handeln und die SSS sofort verbieten“, meinte Adler. Der Verfassungsschutz hatte zur SSS befunden, es handele sich um eine rechtsextreme „militärisch-nationalistische Vereinigung“ mit streng hierarchischem Aufbau. Der SSS gehören nach dem Bericht 100 Mitglieder und 200 Sympathisanten an. Es handele sich bei der SSS um die quantitativ stärkste Skinhead-Organisation im Freistaat.